haasis:wortgeburten

TOD MEINES VATERS (1944)
SEELISCHE ÖKONOMIE GEGENÜBER NS-DIKTATUR UND TOD
Brief seiner Schwester Elfriede Roschmann, meiner Tante Elf
von Hellmut G. Haasis

Der Brief wird vollständig und unverändert wiedergegeben. Ein interessantes Beispiel für den damaligen Briefstil – und für eine noch Jahrzehnte nach dem Krieg gültige SEELISCHE ÖKONOMIE, um über Diktatur, Terror und totalen Krieg nicht politisch und geschichtlich denken zu müssen und doch den Druck auf die Seele erträglich regeln zu können.

Die fast groteske Zusammenstellung unpassender Themen entspricht dem, was die Herzen brauchten. Dabei schrieb meine Tante recht gut, sie war Sekretärin in einem Betrieb. - Später wuchs sie mir ans Herz, als ich im Internat in Blaubeuren (bei Ulm) lebte und Sonntags eingeladen wurde in ihre Familie – und zu meinen Vettern Uli und Fritz Roschmann - nach Ulm an der Donau.
Hier der Wortlaut, unverändert.

Waiblingen, den 30. September 1944

Liebe Frau Back!
Ihre lieben Zeilen und vor allem Ihre Anteilnahme hat mich so sehr gefreut, dass ich sofort darauf Antwort geben möchte. Es ist eigenartig, dass ich in letzter Zeit oft an Sie gedacht habe, und auch ich habe mir immer vorgenommen, Ihnen zu schreiben, aber seit dem 25. Juli [1944] kam so viel Schweres über uns, dass ich oft keine Kraft hatte, meinem Mann zu schreiben, alles blieb liegen.

Aber zuerst zu Ihnen. Offenbar geht es Ihnen und der ganzen Familie noch erträglich, auch ist Ihr Mann zu Hause, ach, wie viel ist das wert. Eben schrieb ich Fritz [ihr Ehemann Fritz Roschmann, mein Onkel, den ich nie kennenlernte, weil er im selben Jahr im Krieg umkam], wie sehr er mir wirklich bei der Erziehung unseres Ulis fehle, der erst 6 ½ Jahre alt ist, aber ein ganz schwieriger Patron [sehr gemäßigtes schwäbisches Schimpfwort] zu werden verspricht.

Die Schule, die vor 3 Wochen begonnen hat, macht nicht den geringsten Eindruck auf ihn, die Hauptsache ist, dass möglichst viel Alarm ist, und da kommt er ja zur Zeit auf seine Rechnung.

[Übertreibung meiner Tante; mein Vetter Uli Roschmann wurde Kaufmann und war Leiter des Technischen Zentraleinkaufs der Diakonie in Stetten/Remstal]

Dafür macht mir der kleine Fritzle umso mehr Freude, er ist ein rechter Sonnenschein, wenn er auch wirklich seine Eigensinnperiode hat! [nächste Übertreibung, aber so waren halt unsere Mütter]. Bei Ihrer Kinderschar würde aber der Vater sicher noch viel mehr fehlen, und zudem ist doch in einem Pfarrhaushalt so weit mehr als in einem Privathaus. [hier fehlen sinngemäß einige Worte]

Haben Sie ausser dem jungen Mädchen noch mehr Stuttgarter Totalgeschädigte aufgenommen? Sie haben sicher Ihr Haus immer voll!

Also Fritz war ja seit 1. Mai im rückwärtigen Gebiet, aber immer noch bei Witebsk. Er wurde damals mit einem jungen Soldaten ausgetauscht und kam dann zu einer Verwaltungskompanie auf die Schreibstube. Diesem glücklichen Umstand hatte er es auch zu verdanken, dass er am 23. Juni motorisiert aus dem Bereich von Witebsk herauskam.

Ich hatte wohl lange keine Post, war sehr in Sorge um ihn und hatte doch damals das bestimmte Gefühl, dass er lebt und noch herausgekommen ist. Nach längerer Irrfahrt kam er nach Litauen und liegt seinem letzten Brief nach 30-40 km entfernt von der Elchniederung. Es geht ihm recht gut, hat nur viel Arbeit und schreibt arg, arg kriegsmüde. Aber wer ist das nicht? Mit dem Urlaub im Juni, auf den wir uns Beide so sehr freuten, wurde es natürlich nichts, es kam Urlaubsperre.

Dann kam der 25. Juli [1944], der so entsetzlich war, dass ich ihn nie vergessen werde. Wir sind ja 12 km entfernt von Stgt [Kurzform für Stuttgart; als Ort gemeint ist Waiblingen], aber morgens war der Himmel noch rot, und überall lagen halbverbrannte Papierfetzen, meist Geschäftspapiere von Stuttgarter Firmen. Ich hatte eine entsetzliche Angst um meine Angehörigen und konnte doch bei der ständigen Gefahr nicht von den Kindern weg.

Gegen Abend kamen dann meine Schwester, Schwager und Nichte [Elsbeth Backmeister, geb. Haasis 1899; Onkel Hermann, Chef der Dresdener Bank, 1945 Internierungshaft; meine Base Ingrid, später verheiratete Grosse in Nürtingen], völlig abgebrannt, sie besassen noch 1 Koffer, Tasche und Ingrid ihre geliebte Geige, mehr durften sie nicht in den Stollen nehmen.

Meine Schwester wohnte in der Seestrasse [heute Friedrichstraße], hatte schon viel Fliegerschaden, nun ist in das Haus eine Mine gefallen und eine Menge dieser neuartigen Flüssigkeit [Phosphor]. Das Haus brannte tagelang lichterloh, so dass mein Schwager nach vielen Tagen wohl das Kellergewölbe noch vorfand, nicht aber den geringsten Gegenstand ihrer Habe.

Meine alten Eltern wurden in der gleichen Nacht im Herdweg obdachlos, im Garten fiel eine schwere Bombe und riss die eine Hauswand ein. Ein wüstes Durcheinander in der ganzen Wohnung, für ältere Leute keine Bleibe mehr. Meine Eltern sind nun seither in einem kleinen, schrägen Zimmerle, das ihnen meine ledige Schwester [Magdalene Haasis, geb. 1898, um 1948 heiratete sie den Esslinger Kunstverleger Emil Stützel und lebte in Esslingen] einige Zeit vorher schon für einen Notfall gemietet hatte. 32 Jahre wohnten sie in einer 5-Zimmerwohnung, jetzt sind sie in einem kleinen Siedlungshäusle geduldet. Aber es gibt ja in Stgt so entsetzlich viel Leid und Elend, dass wir noch ganz zufrieden sein müssen, wir haben doch wenigstens nicht den Tod eines Lieben zu beklagen.

ERWIN HAASIS 1935 mit dem ersten Kind

Meine Schwester mit Mann und Tochter und meine ledige Schwester wohnten dann alle bei mir in unserer Dreizimmerwohnung, wir schliefen recht und schlecht, aber es ging.

Nun hat meine Schwester in der Zwischenzeit eine kleine 1 ½ Zimmerwohnung mit Küche, alles möbliert bekommen, und zunächst sind sie für diesen Unterschlupf dankbar. Ingrid ist ja schon seit November bei mir und geht hier in die Oberschule, sie schläft jetzt nur noch bei mir.

Meine älteste Schwester [Magdalene, unsere legendäre Tante Lene, die als lange Zeit Ledige, später kinderlos Verheiratete sich rührend der verwaisten Kinder ihres Bruders Erwin annahm] ist, nachdem sie in Stgt berufstätig war, für ganz bei mir. Wir müssen eben sehr zusammenrücken, aber ich bin so dankbar, dass ich jetzt in dieser schweren Zeit meinen Angehörigen etwas sein kann, aber wer weiss, wie lange ich das Heim behalten darf.

Aber selten kommt ein Unglück allein, am 11. August [1944] kam unser einziger Bruder, eben dieser Pfarrer Haasis, bei einem Terrorangriff auf Strassburg ums Leben. Er stand dort schon tagelang mit seinem Lazarettzug einsatzbereit, kam aber aus verschiedenen Gründen nicht weg. Als der Angriff stattfand, befand sich mein Bruder mit noch 4 Mann im Zug bei schriftlichen Arbeiten. Sie suchten Schutz zuerst in einem Bohnenfeld, nachher in einer Lehmgrube. Vor diese Grube fiel ein Volltreffer. Unser Bruder wurde mit noch 2 Mann ungefähr 20 m hinausgeschleudert, bekam sehr wahrscheinlich durch den Luftdruck einen Lungenriss und war sofort tot, für uns ein grosser Trost, dass er nicht leiden musste.

Dies geschah am Freitagabend und erst am Dienstagabend, einige Stunden nach der militärischen Beerdigung bekam meine Schwägerin [meine Mutter Gertrud Haasis, geb. Schmid 1908] folgendes Telegramm: Oberzahlm[eister] H[aasis] beim [hier steht vertippt: mein] Angriff auf Str.[assburg] getötet, wenn Überführung erwünscht, sofort Drahtnachricht.

Es sei entsetzlich gewesen, erzählte mir meine Schwägerin, als die Nachricht nach Mühlacker gekommen sei, denn sie selbst lag bereits seit 2 Monaten mit schwerem Gelenkrheumatismus hilflos im Bett. Am 10. Sept., an seinem 42. Geburtstag, fand in Mühl.[acker] die Gedenkfeier für ihn statt.

Es war für uns alle ein schwerer Gang. 3 Kinder sind da, das älteste ist 9 Jahre [meine Schwester Evamaria, geb. 1935], dann kommen zwei Buben im Alter von 6 [mein Bruder Waldemar, geb. 1938] und 2 ½ [ich selber].

Für meine Schwägerin, aber auch für meine Eltern und uns Geschwister ist es heute noch nicht fasslich, dass er nie, nie wieder kommen soll, und doch, er hat ausgelitten und darf nun im [vertippt: in] Frieden Gottes ruhen, nach dem er sich immer so sehr gesehnt hat. Seinen letzten Briefen nach hatte er seinen Tod gespürt.

Am 12./13. Sept. hat dann meine ledige Schwester in dem schwerbeschädigten Haus der Eltern [Herdweg] ihre meiste Kleidung, alle Bücher und viele andere Dinge verloren, das Haus ist völlig abgebrannt. Sie kommt über diesen Verlust aber leichter hinweg als über den meist grauenvollen Tod so vieler geliebter und geachteter Menschen.

Im Haus meiner Eltern hat auch ein Prälat Schöll gewohnt, vielleicht kennen Sie ihn zufällig, er hat auch seine gesamte Bibliothek verloren. In Stgt gingen Werte verloren, man kann es schlecht in Worten fassen.

Am 12. Sept. brannte auch die Bank meines Schwagers [Dresdener Bank, wo mein Onkel Hermann Backmeister Direktor war] ab, das Geschäft meiner Schwester und die Bank von Fritz. Und was wird noch alles auf uns warten? Und doch, wir dürfen ja auf Gott vertrauen, wenn wir das auch nicht mehr hätten?

Wissen Sie etwas von Frau Zeller? Ich habe sie kurz vor den schweren Angriffen besucht, ob sie wohl noch in Korntal ist? Ich selbst bleibe jetzt da, komme, was kommen mag, dann sieht man wieder weiter.

Ihnen, liebe Frau Back, und der ganzen Familie wünsche ich von Herzen, dass Sie von diesem Leid und Elend verschont bleiben mögen, und grüsse Sie, Herrn Pfarrer und die Kinder herzlich
Ihre Elfriede Roschmann m[it] Uli u. Frizle.
[Gruß handschriftlich]

ERWIN HAASIS älteste Form des Grabs 1944 in Straßburg/Elsass

ERLÄUTERUNGEN
Der Brief befindet sich in einer Kopie in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, in der Sammlung von Kriegsbriefen, das Original noch immer beim Sohn Fritz Roschmann, meinem Vetter in Forchtenberg/Kocher, im Hohenlohischen. (von mir digitalisiert August 2009).

 

Die Stuttgarter Stadtgeschichte verzeichnet zu allen Bombardierungen: 53 Luftangriffe, 4.562 Tote, darunter 3.618 Deutsche, 770 Ausländer und 89 Ortsfremde sowie 85 Vermisste sowie 8.908 Verwundete. In Stuttgart wurden insgesamt 39.125 Gebäude (57,5%) zerstört oder beschädigt. – Der Schwerpunkte der Angriffe lag im Juli 1944. Wäre Hitler durch Stauffenbergs Attentat tödlich getroffen worden, wären wohl viele nicht gestorben.

16. Juli 1944, 10.09 bis 10.25 Uhr. Ziel: Bad Cannstatt, Winterhalde, Remstal- und Gäubahn. 42 Tote, 94 Verwundete, ca. 100 Bomber.
21. Juli 1944, 11.04 bis 11.12 Uhr. Ziel: Zuffenhausen, Hirth-Motorenwerke. 31 Tote, 29 Verwundete. 25 Bomber.
25. Juli 1944, 1.35 bis 2.10 Uhr. Ziel: Stadtzentrum. 16., 25. und 28. Juli: 884 Tote, 1916 Verwundete, 14 Vermisste, 614 Bomber.
16. Juli 1944, 1.38 bis 2.35 Uhr. Ziel: Innenstadt, 550 Tote.
28. Juli 1944, 1.22 bis 1.50 Uhr. Ziel: Nordbahnhofgegend. 30 Bomber, von denen 27 die Stadt erreichten.
29. Juli 1944, 1.48 bis 2.30 Uhr. Ziel: Innenstadt, Feuerbach, Botnang, Ostheim, Gablenberg. 496 Bomber.
HYPERLINK "http://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Kasernen/Wehrkreis05/KasernenStuttgartLuftangriffe-R.htm" http://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Kasernen/Wehrkreis05/KasernenStuttgartLuftangriffe-R.htm

Zur Elchniederung schreibt Wikipedia: „Die Elchniederung (früher einfach nur Niederung, russisch Losinaja Dolina) ist eine von Flüssen und Kanälen durchzogenes Niederungslandschaft im Grenzgebiet zwischen HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Russland" \o "Russland" Russland ( HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Oblast_Kaliningrad" \o "Oblast Kaliningrad" Oblast Kaliningrad) und HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Litauen" \o "Litauen" Litauen. Nach diesem Gebiet war bis 1945 auch der HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Landkreis_Elchniederung" \o "Landkreis Elchniederung" Landkreis Elchniederung benannt.“

 

SEELISCHE ÖKONOMIE IM TOTALEN KRIEG
(Interpretation des Briefes)

Meine Tante Elf schrieb gut: flott und viel, fast zwei DIN A 4 Seiten einzeilig. Sie vertippte sich fast nie, eine Kunst bei den alten mechanischen Schreibmaschinen, die die Handgelenke stark beanspruchten.

Ihr Brief bezeugt, wie eine Stuttgarterin - dort war sie 1913 geboren worden, jetzt wohnte sie in Waiblingen - die Bombardierung verarbeiten, politisch wegzustecken suchten. Dazu bedurfte es einer SEELISCHEN ÖKONOMIE, die den Krieg unverändert überstand und erst ab 1967, durch die AUSSERPARLAMENTARISCHE OPPOSITION, bestritten wurde.

Einen hohen Stellenwert für den SEELENHAUSHALT besaß allein schon die Reihenfolge der Themen im Brief.

Zuerst die leichteren Probleme, fast Bagatellen, aber für unsere Kriegsmütter ein Problem: Wenn die Väter fehlten, wog auch die winzigste Selbstständigkeitsregung der Kleinen schwer. Während draußen die Städte zusammenfielen, schien in der Familie die Erziehung in die Brüche zu gehen. Unsere Mütter glaubten, auch noch den Vater ersetzen zu müssen. Die geringste Abweichung schuf ein Drama.

Heute können wir über einiges nur schmunzeln. Meine beiden Vettern waren alles andere als Ausgeburten von Rabauken oder gar Bösewichten. O jemineh – aber mit solchen Nebenschauplätzen entlasteten sich die gestressten Mütter. Vielleicht spürten auch sie, dass das eigentlich nur Kleinigkeiten waren. Sie wollten sich im Vergleich zu ihren jeden Tag tödlich gefährdeten Männern ebenfalls sehr belastet vorkommen.

Beim Fehlen der Väter wäre eigentlich ein Gedanke an den Krieg am Platz gewesen.
Aber nein, jeder kritische Blick auf den Krieg war verboten - verboten sie sich selbst. Die Partei konnte nicht überall sein, aber sie war wenigstens in den angstvollen Herzen überangepasster Mütter.

Warum? Weil so was nicht erlaubt war. Das ging uns Beginn der 1960er Jahre auf die Nerven. Sie hätten so gerne JASAGER gehabt, während die Jasager alle ins Unglück gestürzt hatten.

Als wir dieser Verdrängungskunst nicht mehr folgten, fühlten die Mütter sich in ihren Opfern verletzt, ihre Seelische Ökonomie zerbrach.

Interessant der EINBRUCH DER KRIEGSSPRACHE in diesem auf Harmlosigkeit gestimmten Brief. Nicht alles konnte die überforderte MUTTERSEELE verdrängen, einige Anleihen an die politische Alltagssprache des Reiches machte die VERDRÄNGUNG zwar nicht wahr, aber wenigstens glaubwürdig.

TOTALGESCHÄDIGTE
IM RÜCKWÄRTIGEN GEBIET
VERWALTUNGSKOMPANIE
NEUARTIGE FLÜSSIGKEIT (gemeint ist Phosphor)
EINSATZBEREIT IM LAZARETTZUG.

Dennoch ist eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der NS-Sprache auffallend. Auch mein Vater benützte in seinen vielen Brief aus dem Lazarettzug an seine Frau nie die Schlagwörter, wie sie sich täglich aus Zeitungen und Rundfunk aufdrängten. Man konnte sich davon sehr wohl freihalten, wenigstens im Brief.

Doch plötzlich drückt im Brief die KRIEGSREALITÄT durch, mein Onkel Fritz Roschmann schreibt seiner Frau „arg, arg kriegsmüde“. Sie verkneift sich einen Kommentar. Die EIGENE ZENSUR aus Seelenökonomie, Wegtauchen und Verstecken schnippelt weg, was das Herz bedrückt.

Mein Vater habe seinen Tod geahnt, meint seine jüngste Schwester. Der inzwischen eingetretene Tod wischt jeden Gedanken an den Krieg, an Verursacher und Mitläufer weg.

Auch bei den Bombardierungen kommt kein Friedensgedanke auf. Ist da außer Kriegsmüdigkeit nichts gewesen?

Und was sagten DIE TRÄUME? Sie sind nicht überliefert, auch nicht in den langen Erzählungen meiner Mutter nach dem Krieg. Die Seelische Ökonomie tilgte diese Fremdstücke aus den Erinnerungen.

Mir scheint, dass die Soldaten an der Front schon viel länger kriegsmüde waren als die STUMMEN KRIEGERFRAUEN, die bald KRIEGERWITWEN wurden. Die Frauen hatten nun die Aufgabe, ihre Kinder durchzubringen.

Dann schlägt im Brief die BOMBARDIERUNG vom 25. Juli 1944 durch, aber auch nur deshalb, weil es die Schwester mit Familie traf. Und einen Herrn Bankdirektor, der auch recht schnell eine Ersatzwohnung bekam.

Was bleibt bei meiner Tante vom Schrecken übrig, 12 km entfernt in Waiblingen? Nichts als verbrannte Papierfetzen von Geschäftsbriefen. Eher romantisch, ein Naturphänomen. Wieder kein Gedanke an die zunehmende Gewalt des Krieges. Nur indirekt, um die Ecke, erfährt man vom Zuschlagen des Feindes.

Warum die Flieger? Warum der Krieg? Mit welchem Ergebnis bisher? Haben die Opfer sich gelohnt?

Über all dem lag DAS TABU, darüber dürfe nicht gesprochen werden.

Das ist der HAUPTGRUNDSATZ DER SEELISCHEN ÖKONOMIE:
Nicht drüber reden, nichts Falsches fragen.
SCHWEIGEN.

Das erlebte ich gewaltig von meiner Mutter noch am Beginn der 1960er Jahre. An einen prinzipiellen Zusammenstoß erinnere ich mich noch genau. Als ich 1963 – mit 21 Jahren – meiner Mutter
aus Marburg zum Totensonntag schrieb, mein Vater sei nicht fürs Vaterland gefallen, wie die Todesanzeige lüge, sondern für Hitler – war sie jahrelang beleidigt.

Sie suchte mich mit ihrer SEELISCHEN ÖKONOMIE niederzuschlagen:

„So was hättest du nicht gesagt, wenn dein Vater noch leben würde.“

Wohl wahr, aber aus einfachem Grund: Er hätte eben noch gelebt.

Aber in dem so herrschenden Geist war jede ähnliche Frage verboten. Auch die, warum mein Vater 1938 nach der Reichspogromnacht gepredigt hatte, Hitler sei trotz allem DIE VON GOTT EINGESETZTE OBRIGKEIT.

Zurück zum Brief. Bevor meine Tante das Schwerste, den Tod ihres Bruders ansprechen kann, geht es um die engen Wohnverhältnisse – 7 Personen in einer Dreizimmerwohnung. So wohnte man in Prag schon generationenlang usw. - Die eigene Mitschuld durch den Krieg kommt nicht in den Blick.

Bevor meines Vaters Tod angesprochen wird, endet die Privatklage seiner Schwester: „Wer weiss, wie lange ich das Heim behalten darf.“

Das scheint den Tod des Bruders zu mildern – oder beschwichtigt das schlechte Gewissen der überlebenden Frauen zuhause, auch sie müssten Opfer bringen – selbst wenn die nun wirklich nicht vergleichbar sind.

Dabei tröstet sie sich gleich darüber hinaus, glaubt, auch mein Vater hätte einen Nutzen von dieser Strategie: Er habe nicht leiden brauchen. Die Seelische Ökonomie SCHMÄLERT DIE WIRKLICHEN OPFER und hebt die kleinen eigenen übermäßig hervor.

Ähnlich wird der Schlag für meine Mutter abgefedert, die mit drei kleinen Kindern dastand: Das Todes-Telegramm kam zu spät an. – Wie wenn die Pünktlichkeit meiner Mutter etwas genützt hätte.

Hier muss ich mich vor meiner Mutter verneigen, ihr Leben lang hat sie sich geweigert, im Tod meines Vaters einen Sinn finden zu können, auch keinen religiösen. Hier wenigstens rebellierte sie gegen das christliche Duckmäusertum – freilich ohne je weiterzugehen.

Erst als meine Mutter starb (2002) und der Pfarrer bei uns Erinnerungen an meine Mutter aufnahm, erinnerte meine Schwester uns wieder daran. Ihr Leben lang hatte die Mutter sich nicht damit abgefunden, dass Gott einer Frau mit drei kleinen Kindern den Mann wegnimmt. – Aber weiter gingen ihre rebellischen Gedanken nie, kein Blick auf andere Völker, auf die Taten der eigenen Soldaten, auf die vielen toten Väter überall.

Meine Tante Elf findet es in diesem Brief ebenfalls unfasslich, sie drückt es indirekt aus: Ihr Bruder wird nie mehr wiederkommen. Der Jammer der Familie wird umgangen. Meine Tante versöhnt sich ruckzuck mit Gott, denn mein Vater dürfe jetzt „im Frieden Gottes ruhen“.

So einen Stuss hat mir meine Mutter nie erzählt. Da bin ich sehr sehr froh.

Anstatt über den Kriegsfortgang zu schreiben, stürzt sich in dem Brief die SEELISCHE ÖKONOMIE weiter auf den Verlust aller Habe bei meiner Tante Lene. Und ein Herr Prälat verliert wirklich „seine gesamte Bibliothek“. Bagatellen als RETTUNGSANKER. „In Stgt gingen Werte verloren.“ Zwei Banken brannten aus, mit denen die Schwestern übrigens gut verdient hatten. Dem Regime ergeben. Von Kriegsgewinnen war in meiner Familie nie etwas zu hören.

Zum Schluss klappert ausgeleiert DER ALTE CHRISTENGOTT daher, fast zynisch. Während überall der WAHNSINN dieses Krieges sich entfaltet, „dürfen wir ja auf Gott vertrauen“.

Der Bogen der Seelischen Ökonomie hat sich mit der FLUCHT INS NICHTS geschlossen.
(August 2009)

 

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