haasis:wortgeburten

 

Nr. 4 AMADEO BORDIGA
TORINO
ITALIENISCHE ARBEITERBEWEGUNG
GEISTIG-POLITISCHE REISE 1968-2008

Meine Rückreise in die Erinnerung begann mit einer Anfrage:

Felix Klopotek, Köln, 4. 5. 2008
Lieber Herr Haasis,
ich habe eine Frage (Sie sehen sie im Betreff: AMADEO BORDIGA italienischer Marxist, scharfer Gegner von Stalin), die Sie vielleicht sehr überraschen wird.

Lassen Sie mich kurz ausholen. Ich arbeite zur Zeit an einer Werkausgabe der Schriften von Christian Riechers, das Buch wird im Münsteraner Unrast Verlag erscheinen – im Rahmen einer Reihe, zu deren Initiatoren ich ebenfalls zähle: »Dissidenten der Arbeiterbewegung«.

Die Reihe wird Denker vorstellen, die sich dem sozialdemokratischen wie marxistisch-leninistischem Mainstream verweigert und für einen unorthodoxen, radikal-demokratischen Marxismus gestritten haben.

Falls es Sie interessiert, können Sie hier klicken
http://www.unrast-verlag.de/unrast,2,257,17.html
(Die Verlagsangaben sind nicht ganz korrekt, das Buch erscheint im Oktober und wird 560 Seiten haben)

Die Dissidenten finden sich hier
http://www.diss-d-a.de/
(Bis auf die Buchcover noch keine weiteren Inhalte vorhanden, die kommen ab nächste Woche.)

Ich bin übrigens weder ein Schüler von Riechers noch verbinde ich irgendein akademisches Interesse, alleine die Texte haben mich so gefesselt, dass ich auf die Idee zu einem Sammelband stieß.

Riechers’ wissenschaftlicher Nachlass liegt im Hannoveraner Institut für politische Wissenschaft, Michael Buckmiller hat mir ermöglicht, darin ausgiebig zu recherchieren.

Dort bin ich auf ein merkwürdig-interessantes Dokument gestoßen: auf einen Brief, den Sie im August 1970 an Hartmut Dabrowski (Neue Kritik) geschrieben haben.

Sie nehmen Abstand von dem Vorhaben, Schriften von Amadeo Bordiga zu übersetzen, weil der Verlag offensichtlich andere Übersetzer/Herausgeber angesprochen hat (Riechers?), Sie bezeichnen sich als Ausgeschlossenen, bieten allerdings weiter Ihre Hilfe an, bitten aber darum, gegenüber den neuen Herausgebern anonym zu bleiben.

Nun, weder hat man sich um die Anonymität geschert (wie sonst käme der Brief in die Unterlagen von Christian Riechers?) noch ist jemals eine vernünftige Edition von Bordigas Schriften erschienen.

Meine Frage ist ganz einfach die: Können Sie mehr über die in dem Brief angesprochenen Dinge erzählen? Ich bin mit Ihrem Werk durchaus vertraut und habe gestaunt, dass Sie sich auch einst mit Bordiga näher auseinandergesetzt haben.

Ich bin kein Bordigist und folglich auch nicht Mitglied irgendeiner Sekte, gleichwohl interessieren mich seine Schriften und seine Geschichte sehr.

Bis heute liegt doch irgendwie ein Nebel des Obskuren und Verschwörerischen über seinem Werk.

Falls Sie Fragen an mich haben, fragen Sie ruhig.

Besten Dank im voraus & schöne Grüße
Felix Klopotek
_________________________________________________________

hellmut g. haasis, reutlingen
5 5 08

lieber felix,
ich glaube, wenn wir über bordiga schreiben, können wir uns schon duzen, nach altem brauch.

weißt du, wie viele jahre es her sind, seit diesem brief, von dem ich dir ominöse hintergründe offenbaren soll?

schlappe 38 jahre. ich müsste mehr leisten als ein vergänglicher computer, wenn ich da noch was wüsste. wer mich wo ausgebootet hat bei diesem projekt, weiß ich nicht mehr. ich glaub, es ging um suhrkamp. möglich, dass da plötzlich der verlag eher an einer edition von christian riechers interessiert war.

wie auch immer, es ist zu lange her.
wichtiger ist mir, dass ich schon lange andere themen mache, wie du in meinem werkzeichnis siehst, das bekommst du über google: haasis wortgeburten. da erscheint es auf der startseite linke leiste unten.

meine geistig-politische reise ging danach woandershin. zuerst zur deutschen gewerkschaftsjugend (ehrenamtlich 3 jahre tätig), dann nach italien und sardinien, später zu 2.000 jahren deutsche freiheitsbewegungen, in letzter zeit von georg elser über heydrichs tod zum justizermordeten joseph süß oppenheimer.

bordiga schätzte ich vor allem wegen seiner frühen und theoretisch klaren haltung gegen stalin. der brief von 1926 an korsch ist mir nicht bekannt gewesen, ich halte ihn für sehr interessant.

allerdings glaube ich nicht, dass bordiga etwas für eine rätesozialische demokratie der arbeiterbewegung hätte leisten können oder wollen. das war aber damals mein nächster schritt, deshalb kam ich von bordiga weg und studierte antonio gramsci, danach die holländischen rätekommunisten gorter und pannekoek.

bei allen war das ergebnis ähnlich: für die heutigen komplizierten aktivierungsprobleme der abhängig arbeitenden menschen ist mit den alten vordenkern nicht mehr viel anzufangen.

also studierte ich die anarchisten und was so in deren nähe war. insgesamt also, was sich mir als verschiedene strömungen der libertären linken herausstellte.

damit war noch weniger anzufangen, wenn man sich an die frage machte, wie eigentlich eine sozialistische gesellschaft lebensfähig gemacht werden müsste.

ich glaube, einige gedanken dieser zeit findest du in meinem nachwort zur ausgabe von joseph dietzgen, luchterhand, 1973.

mit der zeit ist mir diese fragerichtung abhanden gekommen. unter anderem auch deshalb, weil ich für solche publikationen keinerlei publikum sah. die deutschen lohn- und gehaltsabhängigen sind damals wie auch heute daran nicht sonderlich interessiert, also würden sie mich mit meinen gedanken und büchern auf dem trockenen sitzen lassen.

deshalb weitete ich meinen fragehorizont aus: wie kamen bei uns die notwendigen freiheitsimpulse auf die welt? wie wurden sie behauptet? welche untergründigen traditionen gab es? wie ging es weiter?

angefangen hatte ich, nach dem auftrag des rowohlt-verlags (nicht mehr suhrkamp), beim hambacher fest und 1848. danach ging ich zurück zu den jakobinern. aber am ende franste sich die kontinuität fast 2.000 jahre zurück aus. und so saß ich sieben jahre dran (ab 1977), bis die „spuren der besiegten“ erschienen (1984).

du kannst dir denken, dass danach amadeo bordiga immer mehr nur noch eine erinnerung an die frühen siebziger jahre war und verblasste.

den anstoß zu bordiga bekam ich übrigens durch einen italienischen freund aus torino, philosophie-lehrer an einem gymnasium dort.
er heißt francesco coppellotti. kam um 1968 für ein oder zwei jahre nach tübingen, um bloch zu studieren.

francesco war damals eine gute empfehlung, er war ein kenntnisreicher marxist aus einer roten stadt. als er dann ungefähr 1972 ernst bloch ins italienische übersetzen wollte, zurückgekehrt nach torino, habe ich in tübingen den kontakt zu den blochs hergestellt.

und francesco übersetzte danach viele werke blochs. kannst du ja alles bibliografieren. ich glaube, er gilt heute als der fleißigste bloch-übersetzer ins italienische.

in den 90er jahren kam ein bruch bei ihm. aus vielen gründen, auch privaten, schlug er sich, enttäuscht über die italienisch linke, auf die rechte seite, verließ also bordiga wie bloch, und orientierte sich an der lega nord, begeistert von umberto bossi, nicht weit von der neofaschistischen alleanza nazionale.

er hat danach einigen stuss geschrieben (arg rechtsradikaler provenienz, ich fand vieles auch im italienischen web, teilweise wurde er sogar vom web zensiert) und bei vorworten zu ernst nolte publiziert.

ich hatte bauchweh mit ihm, hab mich aber entschlossen, einen alten freund, er ist zwei jahre älter als ich, geb. 1940, nicht wegzuwerfen, sondern mit ihm im gespräch zu bleiben.

er ist auf der rechten seite geblieben, wodurch ich wenigstens pikante details erfuhr, wie über den urvater der deutschen neo-rechtsradikalen, prof. ernst nolte, der in italien stark wirkte und außerhalb der medienbeobachtung auftrat. francesco hat ihn übersetzt.

in den letzten jahren übersetzt francesco martin walser, bleibt also irgendwie im selben sumpf, aber politisch nicht ganz so zugespitzt und schädlich: walsers spätwerk.

so, das ist es, was mir dazu einfällt.
wenn du mehr wissen willst, mail mir.

dir gute erfolge mit der edition von christian riechers.
cordiali saluti
hellmut g. haasis

grad les ich zur kontrolle nochmals deinen brief und sehe, dass ich damals an den verlag neue kritik schrieb. da siehst du, wie mir alles durcheinander gerutscht ist.
(deshalb warnung vor blindem vertrauen auf die oral history. sehr brüchige brücke in die vergangenheit.)

das mit dem wunsch nach anonymität scheint mir von der allgemeinen verschwörungsstimmung dieser strömung zu stammen. francesco empfand christian riechers als gefährlichen konkurrenten. (nur aus animosität, weil riechers sich mit bordiga abgab, ohne dazu vom italienischen bordigismus legitimiert zu sein. so kleinkariert waren wir!!)

ich hab mich davon wohl anstecken lassen, später aber mit diesem phobischen verhalten, wie es zu sekten gehört, gebrochen.

ständiges misstrauen gegeneinander erlebte ich in torino, als ich die dortigen bordigisten traf, die mir als furchtbare sektierer erschienen. sie waren stets allein im besitz der wahrheit, und ich interessierte mich ja noch für viele andere dinge.

später traf ich in torino die kleine leninistische partei lotta comunista. ganz ähnliche atmosphäre, nur viel radikaler, martialischer und stärker in die öffentlichkeit gerichtet. eine ungemütliche stimmung, hart angefeindet von den kommunisten (pci).

viel gescheiter war für mich, dass ich jahrelang in torino die bestrebungen der dortigen arbeiterbewegung inkluksive der gewerkschaften beobachtete und darüber in rundfunkessays berichtete, in den 70er jahren.

der bleibende besitz aus dieser zeit: eine gewaltige plakatsammlung aus torino 1972-80, kommt jetzt komplett nach zürich, ins museum für gestaltung oder wie der schuppen heißt.

darin zeigt sich mein ständig wachsendes interesse auch an anderen strömungen der opposition, und das passt nicht mehr zu den bordigisten.

lass dir also keine graue haare wachsen über das brieflein von 1970.

(antwort von felix)
Wed, 7 May 2008 12:55:10 +0000
> Betreff: RE: Frage nach Amadeo Bordiga (1970)

Lieber Hellmut,
vielen Dank für die schnelle und ausführliche und umfassende Antwort!
Graue Haare? Um Gottes Willen. Mich interessiert die Frage, ob Riechers über die obligatorische SDS-Mitgliedschaft hinaus sich organisatorisch
engagierte, ob er vielleicht tatsächlich ein »wirklicher« Bordigist gewesen
war, Dein alter Brief hat das – indirekt – durchaus nahegelegt. Deshalb
meine Nachfrage. Für die Edition ist das aber eine nebensächliche Frage.
Und wie gesagt: Ich kenne Dein Werk zwischen Johann Benjamin Erhard und Georg Elser, war aber (deswegen) verblüfft, dass einst auch Bordiga im Fokus stand.
In gewisser Hinsicht gebe ich Dir Recht: Man kann heute kein Bordigist
mehr sein (und wahrscheinlich konnte man es vernünftigerweise nie, weil der Ismus schon das Abspalterische, Sektiererische intendiert), genau so wenig kann man heute Rätekommunist und Anarcho-Syndikalist sein. Meiner Ansicht nach handelt es sich um historische Formen des Arbeiterradikalismus, deren Wert und Bedeutung man nur dann adäquat in den Blick bekommt, wenn man sie eben konsequent historisiert. Alles andere wäre krampfhafter Aktualismus, der letztlich den Blick auf unsere heutigen Probleme versperrt.
Gleichwohl glaube ich, dass man durch diese Texte und diese Geschichten hindurch muss: Bewusstlosigkeit in historischen Dingen bringt einen ja auch nicht weiter bzw. allenfalls auf die Höhen des freudlosen Marxismus der MG’ler!
Oder noch mal anders ausgedrückt: Man kann von Bordiga lernen, und sei es nur dies, wie man’s heute nicht mehr macht. Von Stalin, meine ich, kann man gar nichts lernen. Deshalb diese kleine Reihe beim Unrast-Verlag. Riechers ist insofern interessant, weil er selbst keine historische Figur »aus der Bewegung« ist, sondern als Politologe schon auf Bordiga & Gramsci zurückblickt. Sein Werk ist für mich ein wirklich schönes Beispiel, wie man Formen des Widerstandes und der Subversion die Treue hält, indem man sie in den ihnen angemessen Rahmen (zurück)versetzt. Dagegen ganz fürchterlich: Der Gramscianismus (mittlerweile gibt es sogar einen "Neo-Gramscianismus"), der nichts von Gramsci (und z.B. seinen Intrigen gegen Bordiga) weiß, aber pausenlos von Hegemonie, Rückübersetzung und organischen Intellektuellen redet.
Nochmals vielen Dank! Und bei Interesse schicke ich Dir den Riechers auch gerne zu.
> Felix Klopotek
>
> PS.: Kann man diese Rundfunk-Essays zu Turin, Italien und den Arbeitern eigentlich auch mal hören?

lieber felix,
meine sendungen zu italien befinden sich auf band in den jeweiligen rundfunkarchiven. ob die je davon dir eine kopie ziehen? ich denke, eher nicht. haben ja keine leute dafür.
und wenn, dann zahlst du dich für eine einzige dumm und dämlich.

schade, aber so isses.

die texte sind zu größten teil überliefert in je einem exemplar in der württ. landesbibliothek stuttgart. dort kannst du im online katalog suchmaske und meinen namen eingeben und sie aufrufen.

die älteren, also die vor 1988, musst du im digital-katalog suchen.
ob sie so was ausleihen? müsstest du versuchen. aber es sind mikrige exemplare des funks damals oder mein eigenes papier.

ciao
cordiali saluti
hellmut g. haasis

was du zu den ismen sagst, ist schon lange richtig. zum glück habe ich mit der notwendigen weite für neue erkenntnisse und bewegungen und fragestellungen mich von allen ismen stets freigehalten.

natürlich interessiert mich dein band über riechers. wenn er fertig ist, schick ihn mir bitte.
ciao h.
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wer mehr wissen will über amadeo bordiga:
zur einführung am besten: http://www.unrast-verlag.de/unrast,2,257,17.html
dann weiter:
http://de.wikipedia.org/wiki/Amadeo_Bordiga
http://www.sinistra.net/lib/bor/bordiga.html
http://www.marxists.org/deutsch/archiv/bordiga/index.htm
http://www.marxists.org/archive/bordiga/
http://www.wildcat-www.de/zirkular/46/z46loren.htm
http://digilander.libero.it/diesel43/
http://libcom.org/tags/amadeo-bordiga

 

 

 

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