haasis:wortgeburten

DIE HABERER -
HABERFELDTREIBEN
alte Protestform im ländlich-agrarischen Bayern

Lange hat man sie belächelt, die Haberer in Bayern. Einen BÄUERLICHEN GEHEIMBUND, der sich gegen Missstände aller Art äußerte.
Nicht immer politisch korrekt – schon damals nicht.

Früher gingen mit Rebellionen gelegentlich auch spießige Moralpredigten einher, da waren die Haberer Opfer der Pfaffen- und Duckmäuserwelt. Das hat sich unter den zunehmenden sozialen Spannungen im 19. Jahrhundert grundlegend geändert – gebessert.

Wenn man in der Geschichte, der deutschen, Anerkennung und Überlieferung finden will, sollte man sich schon fröhlich unterwerfen dem Verhaltenscodex der BESSEREN HERRSCHAFTEN im Regierungsapparat, in der Kirche und an den Universitäten.
Aber jawollwollwoll.

Wikipedia liefert mit großer Eile eine gereinigte Version des neuesten Haberfeldtreibens (15. Nov. 2008). In Bayern herrschen noch immer die Großkopfeten, auch im Netz. Aus dem Artikel Haberfeldtreiben sei zitiert, sonst glaubt’s man mir nicht.

„Wiederbelebung
Eine höchst umstrittene Wiederbelebung erfährt das Haberfeldtreiben im November 2008, als mehr als 2000 Milchbauern in der Gemeinde HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Ruhstorf_an_der_Rott" \o "Ruhstorf an der Rott" Ruhstorf an der Rott ihren Protest gegen die Politik des HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Bauernverband" \o "Deutscher Bauernverband" Deutschen Bauernverbandes und seines Präsidenten HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Gerd_Sonnleitner" \o "Gerd Sonnleitner" Gerd Sonnleitner wegen des zuvor wieder stark gesunkenen Milchpreises auf dem Marktplatz des Ortes lautstark zum Ausdruck brachten. Dabei hielten sich die Teilnehmer in vielen Dingen an das historische Vorbild.

Die Funktion des Haberfeldmeisters übte ein Rinderhalter aus Kronach aus. Sonnleitners Hof, an dem sich etwa 150 Personen zu einer Gegenkundgebung eingefunden hatten, liegt nur wenige hundert Meter vom Marktplatz entfernt. Das Haberfeldtreiben, das von der HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Arbeitsgemeinschaft_b%C3%A4uerliche_Landwirtschaft" \o "Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft" Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft mitinitiiert wurde, blieb entgegen einigen Befürchtungen gewaltfrei. Die Protestaktion wurde von Seiten des Bauernverbandes scharf kritisiert.“
HYPERLINK "http://de.wikipedia.org/wiki/Haberfeldtreiben" http://de.wikipedia.org/wiki/Haberfeldtreiben

Hier spricht wieder einmal die HEILIGE POLIZEI, wichtig ist offenbar nur, dass es keine Schlägerei gab, die Motive der Bauern sind sekundär – wie schon früher.

Da lob ich mir einen sorgfältigen Journalismus. Das gibt es noch, selten genug. Aber wir sind schon für Kleinigkeiten dankbar.
Eine Kollegin lieferte einen breit nachgedruckten Artikel, ich bring ihn nach der Frankenpost, 17. November 2008.

„Wütender Protest
2000 Landwirte lassen den Brauch des Haberfeldtreibens aufleben und halten gegen Bauernpräsident Gerd Sonnleitner in dessen Heimatort Gericht.
Gegenkundgebung von 150 Getreuen.

Von Sabine Dobel, dpa

Ruhstorf – Sie kamen in dunklen Umhängen und Hüten, die Gesichter geschwärzt, um im Schein von Fackeln und begleitet von ohrenbetäubendem Lärm nach altem Brauch Gericht zu halten. Mit einem nächtlichen Haberfeldtreiben, einer Art Landgericht, rechneten wütende Milchbauern am Samstagabend mit Bauernpräsident Gerd Sonnleitner ab. Rund 2000 Landwirte kamen an Sonnleitners Wohnort in Ruhstorf in Niederbayern.

Mit Kuhglocken, Trommeln und Ratschen zogen sie durch den Ort, voran eine Blaskapelle. Auf Sonnleitners Hof ein paar Hundert Meter weiter versammelten sich etwa 150 Getreue aus ganz Bayern sowie die Verbandsspitze, um den Präsidenten des Bayerischen und Deutschen Bauernverbandes zu unterstützen. Die Polizei sicherte den Hof.

Die Milchbauern sehen sich vom Bauernverband angesichts drastisch sinkender Milchpreise im Stich gelassen. Der Verband vertrete nicht die Bauern, sondern beuge sich den Interessen der Industrie. Einige verlangten auch den Rücktritt Sonnleitners.

„Bauernverband, Bauernverband,
du bist nimmer der Vertreter von de Leut vom Land –
Drum pack jetzt zusammen und nimm deinen Hut,
denn ohne dich geht’s genauso gut“,

rief Haberfeldmeister Anton Prechtl, und aus Hunderten Kehlen schallte es zurück: „Wahr is!“

Die modernen Haberer durften ihre Gesichter nicht ganz schwärzen – das hätte gegen das Vermummungsverbot verstoßen.

„Die neue Regierung sei gewarnt und aufgeklärt,
wenn das jetzt ned bald besser werd ...
dann kannst den Bauernstand vergessen
und Leut können’s Zeug vom Ausland fressen!“,

skandierte Prechtl, auf einem großen Milchkübel stehend, unter johlendem Applaus.

Anwohner verfolgten das nächtliche Schauspiel, das zu früheren Zeiten Angst und Schrecken verbreitete, vom Straßenrand aus. Er finde das sehr gut, sagte der Ruhstorfer Josef Reimann. „Wenn Milch schon billiger ist als Wasser, dann stimmt etwas nicht.“

Der Protest habe eine neue Qualität bekommen, sagte Sonnleitner selbst. „Dass man an den Wohnort geht, das ist neu.“ Er habe Verständnis für den Frust der Milchbauern. „Aber es kann nicht sein, dass wir uns gegenseitig zerfleischen.“ Alle müssten an einem Strang ziehen. „Wir müssen den Verzehr wieder ankurbeln.“ Haberfeldtreiben hätten schon früher aus Verleumdungen bestanden und seien verboten worden.

„Gerd – wir stehen zu Dir“, hieß es auf Transparenten und T-Shirts der Anhänger. Auch Sonnleitners 84-jährige Mutter Juliane hielt unverdrossen ein Manifest hoch. „Es wären gerne viel mehr Leute hergekommen“, sagt ein Kreisobmann. Weil die Kundgebung auf dem Hof stattfand, sei die Zahl begrenzt worden.

Der Zwist zwischen Milchbauern und Verband hat sich drastisch zugespitzt. Wegen des niedrigen Milchpreises hatte der Bundesverband Deutscher Milchviehhalter (BDM) im Sommer zum Milchlieferstopp aufgerufen, der Bauernverband sah darin ein ungeeignetes Mittel. In der Folge seien Marktanteile verloren gegangen.

Die Situation eskalierte erneut, als vor gut einer Woche der Bundesrat eine nationale Beschränkung der Milchproduktion kippte. Die Milchbauern fühlen sich verraten und werfen dem Bauernverband vor, er habe mit einem Argumentationspapier den Bundesrat beeinflusst. Der Beschluss müsse rückgängig gemacht werden.

Die Milchbauern verlangen, Deutschland als größter Milchproduzent müsse eine flexible Mengenregulierung umsetzen, um die Preise zu stützen. Der Bauernverband warnt hingegen vor nationalen Beschränkungen der Milchmenge. Die Molkereien könnten im Ausland Milch kaufen, die Einkommen der deutschen Bauern würden nur noch mehr geschmälert. Die Bauern brauchen mindestens 40 Cent, um wirtschaftlich zu arbeiten. Derzeit liegt der Preis in Bayern um 35 Cent, es wird befürchtet, dass er im neuen Jahr unter 30 Cent sackt.

Markige Worten heizten bei einer Kundgebung nach dem Haberfeldtreiben die Stimmung an. „Wir drehen den Spieß um“, rief Erwin Schneiderbauer, BDM-Vorsitzender in Rottal-Inn, später in der vollbesetzten Niederbayernhalle.

Wolfgang König, Landeschef der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), empörte sich: „Es ist ein Saustall.“ Ein Wechsel an der Spitze reiche nicht. „Der Stall bleibt da, nur die Sau wird ausgetauscht.“

(Originalartikel HYPERLINK "http://www.frankenpost.de/nachrichten/regional/laenderspiegel/art2388,928426" http://www.frankenpost.de/nachrichten/regional/laenderspiegel/art2388,928426)

Natürlich zeigt dieses moderne Haberfeldtreiben in vielen Details Züge, die vom Wandel, aber auch von der geschickten Anpassung an die heute geltenden Kampfbedingungen der Bauern zeugen. Die Polizei ist allgegenwärtig, einstmals wurde sie in nächtliche Gefechte verwickelt - wobei die Bauern im Gelände allemal besser waren. Für die bayerische Monarchie eine ewige Blamage, die man gerne und gründlich verdrängt.

Wir leben heute nicht nur in schärferen Gegensätzen, es gibt eben auch aufgeklärte Landwirte, andererseits einen sichtbar besser bewaffneten kapitalistischen Staat. Wenn die Banken Milliarden in den Sand gesetzt haben, schreit alles nach einem trügerischen Staats-Sozialismus – wenn die Bauern statt 35 Cent pro Liter Milch 40 Cent wollen, rückt die Polizeimacht an.

So schafft man sich Freunde. Das fördert das selbstständige Denken.

Im Jahr 1984 publizierte ich in meiner 3-bändigen Freiheitsgeschichte „Spuren der Besiegten“ auch ein Kapitel über:

„Die Haberer, eine verkannte Bauernbewegung Oberbayerns“
(3. Bd., S. 853-868)

Daraus sei den jüngeren Bayern der Eingang zitiert, meine Interpretation betonte als erste den politischen Charakter, übrigens mit Vergleich weit über Bayern hinaus. Auch wenn sie bei einem großen Verlag erschien (Rowohlt), kam sie in Bayern nicht durch. Rowohlt liegt leider außerhalb Bayerns – was überrascht – und der Autor ist – um Gotteswillen – ein Schwabe. Also am besten verschweigen.

„Im bergigen Land zwischen Isar und Inn, zwischen München, Wasserburg/Inn, Holzkirchen, Bad Tölz und Schliersee, lebte seit Jahrhunderten eine nie erloschene Bauernbewegung (Kapitel 64, 75). Damit hatten alle Herrscher zu tun: die Wittelsbacher Dynastie wie die jeweiligen Besatzungsmächte.

Seit dem 18. Jahrhundert ist in Oberbayern eine bäuerliche Geheimorganisation bezeugt, die eine unberechenbare, unerbittliche Gegenmacht entfaltete: der Habererbund. Die bayerischen Volkskundler stürzten sich immer wieder nur darauf, dass die Haberer in einer nächtlichen Massendemonstration das Sexualleben einzelner Personen, auch höherer Herrschaften, bloßstellten.

So wurde der Blick auf den politischen wie sozialen Gehalt des Geheimbundes verstellt. Die Suche nach irgendeinem historischen Anfangsdatum, nach einem eindeutigen Ursprung, stiftete noch mehr Verwirrung.

In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts schälte sich deutlicher heraus, dass im geheimen Habererbund die bäuerliche Gesellschaft mit der rasch auf das Land vordringenden bürgerlichen Gesellschaft zusammenprallte. Zwei einander ausschließende Gesellschaften rangen um die Geltung ihrer Gesetze.

Die spätere Zeit zeigte, dass gerade zur Zeit ihrer beeindruckendsten Blüte (1863 bis 1867, 1892 bis 1985) die Haberer das letzte Aufbäumen der niedergehenden bäuerlichen Welt signalisierten. Die Rebellen wehrten sich geschickt und zäh. Sie verdienen unsere Sympathie.“ (Haasis, Spuren der Besiegten, S. 853-854)

Zwölf Jahre später spann ich aus dem Stoff der Haberer eine kleine, listige Widerstandsgeschichte, gipfelnd im letzten Haberermeister Thomas Bacher und seinem Schicksal als Gefangener der baierischen Justiz, die es allemal eher mit den Herren hält. Siehe auch die fröhliche Zeit des größten Massenmörders Hitler auf der Festung Landsberg.

„Halb Maskerade, halb Krimi.
Ein bäuerlicher Geheimbund in Oberbayern“
(in: Hellmut G. Haasis: Edelweißpiraten. Erzählungen über eine wilde Jugendbewegung gegen die Nazis, pfiffige Gefangene, eine Flucht im Weinfass, einen bäuerlichen Geheimbund, deppete Geheimpolizisten,
eine spottlustige Arbeiterrepublik und fröhliche Missachtung der Obrigkeit.
Illustrationen von Angela Laich. Trotzdem Verlag, Grafenau/Württemberg 1996, S. 115-128.
(November 2008, überarbeitet Juli 2009)

Fantasiebild 19. Jahrhundert von einer nächtlichen Protestversammlung

Titelblatt vom letzten Zeitzeugen-Buch über die Haberer:
München 1926.

 

/freiheitsgeschichten/Haberer_1.php | anares.org | comenius-antiquariat.ch Samuel Hess 2005