haasis:wortgeburten

Christiane Hegel
Spiel für meinen Totengräber

Erzähldrama in zehn Bildern
für zwei Schauspieler

von Hellmut G. Haasis

Stimmen vom Tonband
Vormund
Arzt
Die hebräische Bibel
Krankengeschichten
Zettel auf dem Maskenball

Musikakzente zwischen den Bildern
klassische Musik der Zeit
Gianni Siviero
Francesco Guccini
Jiri Stivin
Paolo Conte

1 . Bild
Im Wasser
Roter Sandstein und Tannen

Die Nagold bei Calw. Anfangs herrscht Dunkel. Dann steigt fahles Licht hinter einem durchsichtigen Vorhang auf. Davor rote Sandsteine aus dem Schwarzwald. Wasserrauschen, mal zu-, mal abnehmend.

Über Steine und Holz stolpert der Totengräber, stößt ärgerlich mit dem Fuß weg, was ihm im Weg liegt. Er findet eine Wasserleiche, zieht sie aus dem Fluss, schleift sie über die Steine ans Ufer, schaut sie lange an, bruddelt vor sich hin. Er verliert seinen Unwillen, je länger er die Leiche betrachtet.

Christiane (bringt anfangs nur dumpfe Laute heraus. Die Worte gurgeln im wasservollen Hals: Stöhnen, Würgen, Röcheln. Aus dem Lautsprecher Geräusche des Ertrinkens)

Schrrr...... Schuu..... Schaa..... Schatt..... Schmua..... Schbrr..... Schull..... Schuld. Schuldig . Schuldig.
Recht, hat recht, immer recht.

Lea.....Leach..... Leich..... Leichtfuß kommt an Galgen. Passt für jede. Wer hoch hinaus will. Feiner Kittel. Ja, Soldaten wissen's. Böses Herz muss raus, ins Glas.

Prosit, was für Fest. Kein Herzog, keine Liebe. Buchstaben fressen Täler und Flüsse. Ewiges Eis verscharrt. Himmel voller Nußbäume. Nußbäume. Nichts als Nußbäume. Keine Badewanne mehr. Am Himmel bloß noch Nußbäume.

(Sie versucht mehrmals, sich aufzurichten, fällt immer wieder zusammen, rutscht die Steine hinunter dem Fluss zu. Sie will etwas sagen, es geht anfangs wieder im Wassergurgeln, Würgen, Ertrinken unter.)

Hea..... Hem..... Hemd nicht mehr. Hab's zerrissen. Hat ewiges Loch. Nur Festung. Immer wieder neu. Es schreit runter. Macht Ohren zu.

Niemand hier. Endlich allein. Bei mir nur Steine, meine Schafe. Haaa, rote Steine? Keine Sonne keine Farbe.

(Sie nimmt den Totengräber wahr, der ratlos herumsteht.)
Ha, was? Arzt? Weg, Plaggeist.

(Der Totengräber schüttelt den Kopf.)

Irrenknecht? Nicht besser, wenigstens ehrlicher.

(Er schüttelt weiter den Kopf.)

Pfaffe? Auch nichts Gescheites. Schwarz. Keine Farbe.

(Er schüttelt den Kopf)

Totengräber: Ich vergrab hier die Leichen.

Christiane: (fährt zusammen, dann erleichtert)
Schon so weit? Hab's nicht eilig. Setz dich her zu mir.

Totengräber: (unterwürfig) Die Herren werden in Calw drunten warten.

Christiane: Hab' mein Leben lang gewartet. Die sind mir Wurst.
Der Arzt? will mich ins Leben zurückholen. Eselskopf. Ich bin zufrieden. Hier ruht sich's weich, im Bett der Nagold. Oh, ein Bett, ungestörtes Bett.

Der Gastwirt von Teinach? Zittert um seine Zimmerrechnung. Hab' nichts mehr bezahlt.

(lacht schadenfreudig)
Der Dekan und der Pfarrer? wollen mir das Sterbegeläut verweigern. (lacht verzwungen; dann parodierend, mit scharfem, keineswegs humorigem Ton) Zum bösen Schluß legte sie Hand an sich selbst. Pfui, Selbstmörderin. Ekelt mich.

Der Kirchturm wird schweigen. Neben den vier schwarzen Herren an meinem Grab nur noch du, Totengräber. Kein Totenglöckchen.
Gewartet hab' ich. Auf wen? Willst es wissen?

(Der Totengräber zieht die Schultern hoch, will sich abwenden, sie sucht ihn mit den Augen in ihren Bann zu ziehen.)

Versäumt hab' ich das Beste des Lebens: meine Liebsten. Sie sind mir verloren gegangen. Mein Leben ist eine einzige Badewanne gewesen. Eine Zwangsbadewanne, wohin ich blicke, was auch immer ich berühre.

Wen ich geliebt, in mich verschlungen habe, den will ich nicht dort hinten lassen. (Sie deutet hinter den Vorhang zum Fluss.) Ich lass' sie nicht verkommen, im zweiten Tod: im Vergessen. Ich schenk' sie dir: ich erzähl' sie dir. Willst du, ha?

(Inzwischen kriecht sie über die Steine nach hinten, hebt den Vorhang. Der Totengräber ist gleichgültig, windet sich linkisch, nimmt aus Verlegenheit in unfreiwiliger Komik seine Mütze ab, ergibt sich in sein Schicksal als Lohnarbeiter.

Sie geleitet pantomisch den imaginären Hauff nach vorne.)
Hier, der wärmste Märchenerzähler des Landes: der Wilhelm Hauff. Wenn ich seine Geschichten höre, ist's mir, wie wenn ich ein neues Herz bekäme und einen glühenden Kopf. Ein fliegender Teppich reißt mich fort. Was für ein Tempo. Wie der Wind um meine Nase pfeift. Und was für ein Wind: ein aufreizender aus einer andern Welt, aus der Wüste, heiß, feucht vom Meer und gewürzt vom Duft der blühenden Gärten von Bagdad.

Wenn du an deinen Märchen spinnst, entwische ich dem Jammertal. Deine Erzählungen steigen mir in die Nase wie ein Mittag, an dem ich in einem Olivenhain liege und träume beim Zirpen der Grillen, von Honig und Feigen. Und wenn ich aufwache, liegt der verzaubernde Geschmack mir noch auf der Zunge.

(Sie schleppt sich erneut zum Vorhang, hebt ihn hoch.) Kommt her, meine Bücher.

(kichernd) Meine verrufenen Liebhaber. Die sah man nicht gerne bei mir aus- und eingehen. So was schickt sich nicht. Davon wird man krank. Die sind an allem schuld. Lust an der Erkenntnis? Meine schlimmste Sünde, sagen sie.

(zögernd holt sie zum dritten Mal etwas hinter dem Vorhang hervor)
Zuletzt: mein Isaak Sinclair. Dich hat man schon lange vor mir in den Boden versenkt. Man hätte mich mitbegraben sollen. Weit weg von hier, im schauderhaften Wien. Dein Ende ist so hässlich wie das meine. Jetzt sind wir uns gleich, endlich.

Nur solche Gleichheit gönnt man uns. Herzschlag in einer verschrienen Gasse unter Strichjungen. Beim Wiener Kongreß. Europas bemooste Häupter teilen Napoleons Erbe auf. Im Wiener Leichenschauhaus wirft man den Diplomaten Sinclair eine Woche der öffentlichen Neugier zum Fraß vor. Ein Namenloser liegt da rum. Wie ein Landstreicher.

Totengräber, die alle sind mein Leben gewesen, hätten es sein sollen. Mehr war für mich nicht drin. Verstehst du?

Totengräber: Hm, vielleicht. Ah, kaum. Ich kenne mich da nicht aus.

Christiane: Wo kennst du dich aus?

Totengräber: Beim Holzfällen, im Stall, beim Flößen, bei der Feldarbeit, auf dem Hof.

Christiane: Nimm's halt wie eine Erzählung, das ganze Leben, mein Leben.

Totengräber: Was bleibt unsereinem schon übrig? Ich werd' bezahlt. Jetzt eben für's Zuhören.

Christiane: Bevor du mich in meine letzte Wanne drückst, sollst du wissen, was ich war, was ich hätte sein können.

Totengräber: (ungeduldig) Werd' bloß fertig, bis die Herren rufen. Länger kann ich nicht warten. Das kostet mich zu viel. Ich hab' heute noch zwei Fuhren aus dem Wald zu holen. Und davon leb' ich, nicht von deinen Geschichten.

Christiane: Du kannst dir ruhig Zeit nehmen. Mit dem Tod wird eh nichts mehr anders. Bei der Erinnerung der Nachkommenden geht's wie im Leben, im erfolgreichen Leben. Wer groß gewesen ist, wird groß erinnert. Und wer im Leben klein ausgefallen ist, für den muß weniger reichen. Er ist schon vorher vergessen, bei lebendigem Leib.

Totengräber: So ist die Welt. Da kann niemand nichts machen.

Christiane: (dickköpfig) Doch. Nur Worte, auch meine armen Worte, haben ein wenig Macht über Tod, Vergessen,
Ungerechtigkeit, über ein verfehltes Leben. Wenn du nur zuhörst, bin ich sicher, daß meine Erinnerungen nicht verblühen. Oder vielleicht ein bißchen davon. Alles andere wird man mit glühendem Eifer wegwerfen, mit stierem Blick, mit keifiger Stimme: meine Kleider, meine Möbel, meine Briefe, meine Bücher. In den Dreck wie mich selbst. Und dann schüttet man noch die Jauche des Hasses drüber.

Totengräber: Jetzt fang' schon an. Ich werd' so leicht müd, wenn's ans Zuhören geht.

Christiane:(nimmt einen Anlauf zu historischem Pathos, was ihr mißlingt. Ihren hohen Worten stehen ihr zerbrochenes Ende gegenüber)

Mein bißchen Leben. Darauf spiegelt sich anfangs ein ganz anderes Licht, ein völlig neues, niemandem bekannt: die aufgehende Sonne einer alle befreienden Zeit.

Totengräber: (skeptisch, aber interessiert) Alle? Auch unsereins hier? beim Holzfällen, auf dem Acker, in unseren erbärmlichen Hütten?

Christiane: Alle. Unsere Sonne kommt dort herauf, wo sie sonst untergeht: im Westen, jenseits des Rheines, hinter den Vogesen. Da wird uns warm, bald heiß, wir glauben, neue Menschen zu werden. Wir singen, während es aufwärts geht, wie die Lerchen. Es ist, wie wenn völlige Freiheit uns davonträgt. Alle Menschen werden gleich: kein Adel über uns, kein Amtmann, kein reicher Kaufmann gegen uns, kein Verräter.

Wenn die Jugend sich in Stuttgart oder Tübingen trifft, umarmen wir uns. Wir küssen uns, tun geheimnisvoll, flüstern einander die Zukunft ins Ohr. Wir alleine wissen's. Im ganzen Leib spüren wir es Tag und Nacht: die alten Geschwüre werden bald herausgeschnitten werden, den Herzog jagt man zum Teufel, der lahmarschige Landtag gehört in den Kuhstall, die Regierung kippen wir dorthin, wohin sie gehört: in den Neckar.

In unserem Land sehen wir nur noch freie Menschen aufwachsen, keine Sklaven mehr. So glauben wir mit prophetischen Augen zu sehen.

(traurig) Doch vor unseren entsetzten Augen schlägt die Morgenröte ins Gegenteil um, wir können's nicht hindern. Wir müssen mitansehen, wie sich am Ende die Glut des Morgens mit Blut füllt. Ungeheuer steigen vor uns herauf, die noch keiner kennt: Raffgier, Raubsucht, Mordlust, Blutrausch. Und keiner weiß, wie diese Teufel bannen. Die hungrige Köpfmaschine färbt unsere Hoffnungen rot.

Dann fallen uns Heere an die Gurgel. Zum Schluß verrecken die letzten Selbsttäuschungen in Rußlands Eis. Ich erstarre zu einem Eisklotz, neben dem wärmsten Ofen. Wer überlebt, bleibt für sich allein zurück. Wir kommen nicht mehr zusammen, niemand umarmt mich mehr, keiner küßt mich, niemand weiht mich in ein Geheimnis ein. Wir sind stumm geworden.

Einer nach dem andern schleicht sich aus meinem Leben hinaus. Man kennt mich nicht mehr. Einige wenige der Freunde steigen auf unseren Köpfen und Schultern nach oben, ich fühle mich auf die Seite getreten. Aber da zuckt noch immer etwas in mir, das mich sticht, mich reizt, mich überhaupt am Leben erhält: meine Erinnerungen, unsere. Insgeheim leben unsere unerfüllten Hoffnungen weiter, blühen in mir vor sich hin, fast wie wenn nichts gewesen wäre. Meine Sehnsucht ist nicht verdorrt, auch wenn ich wie eine vertrocknete Jungfrau aussehe.

Sobald ich dir davon erzähle, wirst du etwas vom alten Feuer spüren, nicht nur von der Enttäuschung. Totengräber, in uns schafft noch immer etwas, was du nicht sehen kannst und was ich erzählen muss.

Totengräber: Na ja, du weißt schon, wie man redet. Du bleibst auch nicht stecken.

Christiane: (erstmals heiter, lächelnd) Das liegt vielleicht in der Familie. Mein Bruder, der in Berlin, hätte das viel schöner gesagt. Der hatte es mit Griechenland, mit dem alten. Auf dem Papier liebte er die Göttin der praktischen Weisheit: Minerva.

(bemüht artikulierend, einen dozierenden Ton leicht parodierend) Wenn die Erinnerung unseres Lebens ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen. Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.

(lacht gelockert und werbend, lädt den Totengräber ein aufzustehen, führt ihn aus der Szene. Der zeigt resigniert, daß hier nichts zu machen ist.)

Komm, ich führe dich in mein Leben zurück: aus dieser Nässe und Dunkelheit heraus in ein starkes Licht.

(sehnsüchtig) Was für eine Wärme, alle belebend, für manchen zu kräftig. Den verbrannte sie.

Musikakzent
klassische Musik der Zeit

1. Bild von 10, das ganze Stück wurde 1993 geschrieben.
Bei Bedarf kann eine limitierte Edition auf Subskription bestellt werden.
Hellmut G. Haasis, Tannenstr. 17, 72770 Reutlingen
Tel. 07121/50.91.73


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