haasis:wortgeburten

Riemenschneiders Hände

Phantastische Kurzerzählung
von Hellmut G. Haasis

Dunkel herrscht: nichts als Gewalt und Verzweiflung. Feucht der Boden, schneidend kalt die Luft, tropfend nass die Wände.
Hoch über dem Silberband des Mains liegt der Holzschnitzer Tilman Riemenschneider gefangen. Würzburg nach der Niederlage der großen Bauernerhebung. Die Bauern sind an der bischöflichen Festung zerschellt, die Mutigsten unter den Bürgern in die Kerker geworfen.

Das Licht der Weinberge hüllt die Festung des Bischofs in einen grünen Zauber. Es scheint alles so schön. Doch drinnen genießt der geistliche Herrscher, wie seine Opfer geplagt werden. Er hat das Beten und Segnen satt, jetzt will er sich mit dem Teufel messen und das Land seine Rachegelüste spüren lassen.
Seinen Untertanen, Bauern wie Bürgern, wünscht er sich bis in die Knochen und Seelen einzubrennen. Sie wagten es, gegen ihn aufzustehen, gegen den Gesalbten des Herrn, einen der angesehensten Fürsten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.

Erst ein Gesicht durchbricht Riemenschneiders schmerzvolle Einsamkeit, gefesselt liegend auf einem Strohlager in der Marienfeste. Der Gemarterte will aus seinem Elend flüchten, noch einmal möchte er durch sein größtes Werk gehen: den Marienaltar von Creglingen. Wer weiß, vielleicht das letzte Mal?
Da streicht ein warmer Wind aus dem feingliedrigen Aufbau des Creglinger Altars in die dumpfe, kalte Tiefe der Würzburger Kasematten. Ein sanftes Rauschen wie im Geäst einer Linde an einem sonnigen Mittag. Riemenschneider träumt sich in die Schönheit seiner Figuren zurück. Sein Werk – seine Fluchtburg.
Zugleich kehrt lange still gestelltes Leben in die lieblichen Geschöpfe zurück. Hier scheint noch nicht alles vollendet, Sehnsüchte liegen ihm offen.
Als Schöpfer dieser geschnitzten Dichtung möchte er nicht mehr länger bloß aus der Predella hinaufschauen, wie bisher, wo er sich selbst erniedrigt hatte. Die viele Demut schmeckt ihm schal.
Er strebt zu den Aposteln hinauf. Die Arme streckt er zu Marias Himmelfahrt empor. Ob sie ihn vielleicht retten könnte?
Mit der letzten Kraft seines brechenden Lebenswillens sucht er sich nach oben zu ziehen. Es kommt ihm bald unmöglich vor, bei seinen zerstörten Händen.

Langsam geraten die Figuren seines Altars in Bewegung. Als erster sieht der Apostel Philippus das von Schmerzen entstellte Antlitz des Bildhauers am unteren Rand des Altarwerks auftauchen. Vor Schrecken fällt ihm sein Buch aus den Händen und reißt gleich noch das Buch des Petrus, dieses Träumers, zu Boden. Beide Bücher brechen auseinander, innerlich offenbar schon lange hohl.
Das feiste Gesicht des Philippus nimmt einen schmierigen Ausdruck an: einen Charakter von Unterwürfigkeit. Der Apostel begreift, hier will sein einstiger Herr heraufkommen, sein Schöpfer, der ihn mit Werkzeugen traktierte.
Sobald Philippus freilich erkennt, wie unheilbar vernichtet dessen Hände da unten sind, lacht er bösartig auf, mit gehässiger Schadenfreude und sadistischer Genugtuung:
"Auch du hast deinen Meister gefunden. Endlich."
Petrus daneben wiederum ärgert sich, dass sein Buch zugrunde ging, mit dem er seine Herrschergewalt festigen wollte. Er giftet den winzigen Bildhauer an, der sich noch immer nicht aufzurichten vermag. Und der Jünger Bartholomäus greift sogar an: Er wirft sein Buch nach dem Eindringling.

Leben erfasst nun auch die rechte Apostelgruppe. Deren überlange, zerbrechlich anmutenden Hände fangen eine neue Sprache an.
Aber statt von Zuneigung und Hoffnung reden sie von Sattheit, Abweisung, fast Hass, so will es scheinen.
Johannes lässt sein liebevolles Gesicht fallen und brüllt auf den am Boden Liegenden hinunter:
"Lass deine Dreckfinger von meiner Mutter. Die gehört uns, der Kirche. Uns, die oben sind."
Das längliche Gesicht des Jakobus reißt zu einem würgenden Schlund auf:
"Zieh unsere Maria nicht in den Schmutz deiner Rebellen herunter. Die ist für euch viel zu schade. Teufelspack."
.................... usw. (insgesamt 19 Seiten, bibliophiler Druck)


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