haasis:wortgeburten

 

Heiner Jestrabek (Heidenheim)


Rezension:

Hellmut G. Haasis: Heisel Rein
der Gscheite Narr.
Schwänke und Ermordung eines schwäbischen Eulenspiegels. Roman.
freiheitsbaum, Reutlingen-Betzingen, ISBN 3-922589-32-4, 12 Euro

Georg-Elser-Biograf Hellmut G. Haasis präsentierte seinen neuen Roman. Schon auf den ersten Blick unterscheidet sich diese Neuerscheinung von der üblichen Buchproduktion durch eine ansprechende Grafik, mit hübschem Lesezeichen, historischen und stimmungsvollen Fotos. So taucht man gespannt in einen Stoff ein, der zwar in der schwäbischen Provinz angesiedelt ist, aber auch andernorts für lehrreiche und kurzweilige Lektüre sorgen kann.
Der Roman wurde zu Recht unterstützt vom Förderverein Schwäbischer Dialekt e.V., denn der Autor vermittelt nicht nur Dialekt, sondern auch eine reizvoll Mischung von hochdeutscher schwäbisch eingefärbter Ich-Erzähler-Technik und derb urtümlicher wörtlicher Ausdrucksweise und Akzentuierung des spezifisch Betzingerischen. Wer schon einmal eine Lesung (nicht umsonst Performance genannt) des Autors erlebt hat, kann bei der Lektüre des Heisel durchaus bildlich den schalkvollen Haasis vor sich sehen. Es ist nicht ohne Reiz, einen regional auffallenden Autor bei seiner weiteren Entwicklung zu beobachten. Haasis, der durch seine Elser-Biografie bekannt geworden ist, hat bisher eine imposante Reihe von politischen Sachbüchern veröffentlicht und sich hier an seinen zweiten schwäbischen Roman herangewagt.
Haasis beschreibt also in einem schwäbischen Dorfroman den Heisel Rein (eigentlich Reinhold Häußler) einen gescheiten Narren. Heisel wurde 1878 im Dorf Betzingen geboren, als es noch nicht zu Reutlingen gehörte. Um den toten Heisel zum Reden zu bringen, sammelte Haasis die versiegende mündliche Überlieferung seines Wohnortes Betzingen. Angefangen von der Schwiegermutter, die ihm schon 1972 sagte, der Rein sei halt ein „gscheiter Narr“ gewesen. Wie gestaltete Haasis dieses Schicksal?: Er lässt sich die Geschichten erzählen, und eines Tages legt ihm ein Arbeiter Heisel Reins Aufschriebe vor die Haustür. Sie wären untergegangen, man fand sie kurz vor dem Hausabbruch. Aus diesen Papieren lässt der Autor den lachenden Helden selbst erzählen, wann der wo was anstellte. So ergaben sich 24 Streiche, die der Autor in der Tradition alter Volksbücher „das erste Buch der Schwänke“ nennt. Haasis suchte nach Quellen und fand sie, weil er sich darauf versteht, aus den Bergen staatlicher Aktenüberlieferungen die bisher wenig geschätzten Spuren kleiner Freiheitshelden herauszufinden. Denn als so einen versteht der Romanautor den arbeitsscheuen Eulenspiegel. Wo die anderen sich duckten und Gewalttäter ans Ruder ließen, griff der Heisel Rein zu einer uralten Waffe des Volks: zur spottlustigen Fantasie.
Er kam wie Elser aus einer verarmten Familie. Im Gegensatz zu Elser allerdings erlernte er keinen Beruf und blieb tief unten in der sozialen Rangordnung. Seine Stärke sah er in übermächtiger Fantasie und endloser Freude am Spaß. Wenn ihm eine Idee einfiel, jemand auf die Schippe zu nehmen, spielte er sie öffentlich vor, ohne Vorbilder zu kennen. Er war einer unserer ersten Aktionskünstler. Durchaus vergleichbar mit der Figur des Eulenspiegels. Viele seiner öffentlichen Späße begannen damit, dass er ungenaue, missverständliche Redewendungen so wörtlich nahm, dass Unsinn herauskam – und diesen Unsinn nun auch inszenierte. Heisel spottete zwar auf Kosten irgendeiner Person, aber er hütete sich vor Zynismus und Gemeinheiten, wie sie heute unsere Medienproduktionen ausmachen. Auch wenn er jemand einen roten Kopf verschaffte, hinterließen seine Späße doch keine Bitterkeit, eher kollektive Fröhlichkeit, die den Blamierten zur Nachsicht animierte.
Einer seiner schönsten Späße traf den Betzinger Stadtpfarrer Kappus, einen Frömmler und bemühten Tröster. Als die beiden einmal in der Reutlinger Straßenbahn aufeinander trafen, fing der Heisel Rein an, gottserbärmlich zu jammern. Darin war er ein Meister. Der Pfarrer machte sich flugs ans professionelle Trösten. Und nun konnte Heisel Rein vor den Mitfahrenden seinen letzten Traum erzählen. Ihm habe geträumt, er sei in die Hölle gekommen. Dort habe er einen Ohrensessel gesehen, wie ihn einst sein Großvater besaß und den er sich schon lange wünsche. Wie er, der Heisel Rein, sich nun in diesen Sessel setzen will, wird er vom Oberteufel angefahren, er dürfe sich nicht hinein setzen, dieser Sessel sei reserviert für den Betzinger Stadtpfarrer Kappus. Der Pfarrer stieg mit hochrotem Kopf an der nächsten Haltestelle aus. Schlitzohrig auch der Romanautor: Künftig habe der Pfarrer, wenn er Straßenbahn fahren wollte, stets vorher geprüft, ob der Heisel Rein nicht drin sitze. Wenn in Betzingen sich jemand umblickte, ob nicht ein unangenehmer Mensch in seiner Nähe sei, sagte man, der habe den Kappus-Blick.
Die Betzinger bewiesen ihre Sympathie mit dem Außenseiter. Ein Narr, aber kein Depp, kein Verrückter, kein Blödmann, sondern einer, der knapp am Narrenhäusle vorbeischrammte, weil man ihn leben ließ. Das Dorf hielt zu ihm. Aber nicht die Obrigkeit. Der Schultes wollte ihn mal einsperren, weil der gscheite Narr nicht zu bewegen war, Polizeistrafen zu bezahlen. Wie der Schultes ihn eines Tages ins Rathaus schleppt und in die Arrestzelle sperren will, erweist sich Rein als überlegen, indem er blitzschnell den Schultes selbst ins Loch stößt und den Riegel vorschiebt. Ein allgemeines Lachen ging durchs Dorf. Das ging so unbekümmert weiter, bis ein neuer Menschentypus modern wurde. Heisel Rein verspottete in glänzenden Eulenspiegeleien die Massengläubigkeit gegenüber autoritären Typen.
Als er um 1933 den Führerkult zu verulken begann, wurde das Eis dünner, auf dem er spielte. Er merkte zu spät, dass mit dem Strolch von Braunau auch der Humor emigrieren musste. Nun krochen Arschkriecher aus dem Boden, die den Spötter der Polizei empfahlen. 1934 ließ das Amtsgericht den Verteidiger der Faulheit und des Lachens ins städtische Fürsorgehaus einsperren. Der Schlaumeier entwich. Man verdonnerte ihn zur forensischen Psychiatrie. Ein geschwollenes Wort für die Einschließung in eine Irrenanstalt. Heisel Rein kam in die Anstalt Weissenau bei Ravensburg, konnte auch dort abhauen, wurde aber von der Gestapo geschnappt und erneut eingebuchtet. Hitler ließ 1940 über 10.600 Kranke und Behinderte durch Graue Busse ins Schloss Grafeneck (bei Münsingen/ Schwäbische Alb) entführen und im Gas ermorden.
Mit dem „zweiten Buch von der Ermordung“ stellt er sich dem Problem, wie wir Leser den „Gscheiten Narren“ zum Tod begleiten. Ein heikles Thema, wie es für die Populärliteratur eigentlich nicht sein darf. Ein politischer Tod im Gas der Euthanasie-Mordaktion gilt eher als verkaufsschädigend. Lieber verschweigen. Aber auch hier hält der Autor seine alte Linie durch, dass er nicht auf Moden Rücksicht nimmt. Er hält sich an die Wahrheit, auch wenn sie weh tut. Wegsehen nützt nichts, Verschweigen wird bestraft werden.
Im „zweiten Buch der Ermordung“ klingt ein Krimi an, zur Zeit der Deutschen liebstes literarisches Hobby. Aber Haasis würde sich aufgeben, wenn er hier einen Besserwisser von Kommissar agieren ließe. Er bedient sich der modernsten Erzähltechnik der Romanliteratur: Er lässt unkommentiert verschiedene Gestalten nebeneinander auftre-ten, die mit Heisel Reins Ermordung zu tun haben. Haasis verweigert sich einem billigen Trost moderner Filosofen, die einen versöhnungs-eifrigen „Engel der Geschichte“ über die Zeit wachen lassen.
Als realistischer Materialist lässt der Autor diesen mehr eingebildeten als machtvollen Engel scheinbar über den Bussen mitfliegen. Der Leser erlebt ernüchternd, wie dieser Engel mit seinen schon oft gebrochenen und reparierten Flügeln nur an die Wände einer Pappschachtel stößt. In dieser wartet er in Wirklichkeit auf der Bühne, bis man ihn am 24. Dezember an den Weihnachtsbaum hängen wird. Mit Leichtigkeit und zugleich Bitterkeit treiben die nächsten Kapitel auf die Ermordung zu. Eine Wache im Bus schimpft vor sich hin, was das für ein Pack sei, das man hier zum Schloss Grafeneck befördern müsse. Der Leiter von Hitlers Tötungsaktion, ein hohes Tier im württembergischen Innnenmini-sterium, fertigt mit Zynismus aufgescheuchte Anstaltsleiter ab, die kraftlos Einspruch erheben gegen die Ermordung ihrer Pfleglinge.
Den Weg in die Trostlosigkeit vermeidet der Erzähler, indem er einen ursprünglich von Hitler überzeugten Mann auftreten lässt, der seine ermordete Schwester sehen will und sich zu dem von der Polizei total abgeriegelten Grafeneck wagt. Das ist übrigens keine Erfindung, sondern ein historisch belegter Fall.
In strenger Abwechslung lässt der Autor jeder tröstlichen Szene eine böse folgen: Der leitende Tötungsarzt schildert später in Auschwitz einer Stuttgarter Parteidelegation, wie er sein „Handwerk“ in Grafeneck lernte.
Das nächste Erzählstück erscheint mir als das stärkste, das hoffnungsvollste: Ein Anstaltsleiter für Taubstumme schreibt verzweifelt an Mutter und Schwester, wie sehr er in seinem Kampf gegen die Tötungspläne isoliert sei. Aber er ist nicht zu beugen und kann Hitler viele Opfer entreißen. Ein kleiner Schindler auf der Alb. Er ist kein angebräunter Deutscher, sondern ein demokratisch erzogener, aufrechter Schweizer. Auch dieser Fall ist nicht erfunden.
Einer der Fahrer predigt vom Dach seines Busses herab, „dass keine Gnade sei“. Eine Umkehrung untauglicher Trostpredigten. Der Roman endet damit, dass der todgeweihte Heisel Rein sein letztes Papier ausstreut, bevor er in den Bus hineingestoßen wird. Abschied vom Leben und zugleich ein Testament der Euthanasie-Opfer. Hier rückt der unscheinbare Eulenspiegel zu den großen Gestalten unseres Volkes auf.
Nach dem Roman folgt ein Interview von Haasis mit einem Stockhol-mer Eulenspiegel-Forscher. Der Rezensent wird den Eindruck nicht los, dass Haasis hier selbst Eulenspiegel wird und uns auf den Arm nimmt. Ein Foto zeigt ihn als Märchenclown Druiknui, wie er mit einem Floh auf dem Daumen spricht. Dieses Bild unterschreibt er: „Stockholmer Foto von Prof. Schlagintweit während des Interviews mit mir selbst.“
Dieser Roman ist eine Mischung aus Spaß, menschenfreundlichem Spott und Freude am Verstellen und Spielen. Ein großer Bogen zwischen Lachen und Weinen, zwischen Komödiantischem und Tragischem. Wenn wir schon sterben müssen, so ist doch vorher noch genügend Zeit, uns das Leben mit gemeinsamem Lachen zu erleichtern. In diesem Geist hat der Grafiker Uli Trostowitsch eine Menge origineller Illustrationen geschaffen, die allein schon uns beim Durchblättern zum Lesen verleiten.
Eines bleibt am Ende zu bedauern: Der Autor hat die Masse Archivdokumente, die er über diesen Euthanasie-Fall gefunden hat, nicht in den Roman eingearbeitet. Es ist zu hoffen, dass in einer späteren, größeren Fassung des Dorfromans diese Lücke geschlossen wird. Vielleicht in einem weiteren Buch seiner umfangreichen Dokumentation „Spuren der Besiegten“?

 



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