haasis:wortgeburten

Ralf Jandl und Karl Napf werden Siebzig. Würdigung eines der wenigen Intellektuellen vom oberen Neckar

Staatsbeamter, Volksdichter, Revoluzzer
Ralf Jandl und Karl Napf werden Siebzig. Würdigung eines der wenigen Intellektuellen vom oberen Neckar
Man könnte an dieser Stelle auch den Einfluss der Flüchtlinge auf das Schwabentum diskutieren, etwa:

Inwiefern haben nach 1945 Pommern und Schlesier, Ostpreußen und Sudetendeutsche die hiesige Mentalität geschliffen, dabei ein Wesensmerkmal wie die schwäbische Pfiffigkeit verstärkt und leidige Eigenheiten wie Maulfaulheit, Dickfälligkeit und Lahmarschigkeit aufgeweicht?

Ralf Jandl, gebürtiger Schlesier und Herzensschwabe von Grund auf, könnte dazu viel sagen. Doch dafür ist jetzt keine Zeit.
Wer 70 Jahre alt wird, konzentriert seine Kräfte.
von Johannes Klomfass

Illustration des Berliner Künstlers Hans Ticha zu
Karel Capek: Der Krieg mit den Molchen
(Original tschechisch 1936).
Neuer Titel von Hellmut G. Haasis:
Der Kapitalismus schaufelt sich fröhlich nach oben

Der Kapitalismus grassiert, Eigennutz regiert, die Gesellschaft driftet auseinander, die Mittelschicht bröckelt, die Wissenden schweigen und die Redenden wissen nichts. Darum geht es im Wesentlichen, darüber hat Jandl vor zehn Jahren bereits in einer Essay-Reihe in der Horber SÜDWEST PRESSE geschrieben. Das Publikum zeigte sich verwundert. Sein Freund, der Autor und Regisseur Helmut Engisch, sagte: „I weiß au net, was er uff oimôl hôt.“

Zehn Jahre und zwei Großkrisen später hat Baden-Württemberg eine „intellektuellenfeindliche CDU“ (Jandl) samt Ministerpräsidenten mit Rambo-Gebaren aus dem Amt gekegelt,

und Ralf Jandl gehört inzwischen mit Stéphane Hessel („Empört euch!“) und Jean Ziegler („Wir lassen sie verhungern“) zu der Riege zorniger älterer Männer, die das Maul aufmachen. Gegen Mut- und Tatenlosigkeit der Politik, gegen die Ignoranz der Bevölkerung, gegen das Schweigen der Intelligenzija und Anpassertum im Kulturbetrieb.

Wer diesen Jandl nicht näher kennt, mag sich wundern. Der Mann ist Jurist, fing als Assessor bei der Steuerverwaltung an und brachte 27 Jahre als Ministerialdirigent in der baden-württembergischen Staatsbürokratie (Staatsministerium, Wissenschaftsministerium) zu. Verheiratet, zwei Kinder, zwei Enkel, Landhaus in bester Lage, bürgerlich bis in die Knochen, Pensionär mit ordentlichem Salär. Warum fährt so einer nicht Samstagvormittag seinen Daimler in die Waschanlage und sitzt am Nachmittag beim VfB in der VIP-Lounge?

Karrieristen, wie sie heute zuhauf in Vorständen, Parteien und Ministerien sitzen und egomanisch ihr Ding drehen, fangen mit Typen wie einem Jandl nichts an. Wofür steht der denn?

Die Jandl’sche Vielfachbegabung macht sie misstrauisch. Ein Jurist und Finanzer, der als Ministerialdirigent für Kultur zuständig ist und sich für Literatur und Museen interessiert? Ein Beamter, der sich Karl Napf nennt und volkstümliche Schriften verfasst?

Jandl ist vom Habitus her kein Revoluzzer, wie er dem Bürgertum im unruhigen Schlaf erscheinen würde. Inhaltlich schon – in Esslingen wurde im Oktober sein Stück „Revolution“ uraufgeführt. Dabei wollte er gar nicht Schriftsteller oder Dramatiker werden.

Aber als er 1982, inspiriert von Berthold Auerbach, moderne Dorfgeschichten schrieb, verkauften sich von seinem Erstling „Der fromme Metzger“ 30 000 Exemplare. Seit den Siebzigern schrieb Jandl für den Südwestfunk Hörspiele und Sketche.

Der SWF-Kulturredakteur hatte zu einem Pseudonym geraten, da Verwechslungsgefahr bestand mit dem Wiener Dichter Ernst Jandl. Das Pseudonym Karl Napf geht zurück auf den unpolitischen Humoristen Carl Napp, der in den Dreißigern und Vierzigern auch für die Nazis Possen riss.

Als Karl Napf hat Ralf Jandl bis heute ein Dutzend Bücher veröffentlicht – was davon bleiben wird, mögen Volkskundler entscheiden (und natürlich das Publikum).

Es mit einem Karl Napf privat aushalten zu müssen, kann bisweilen eine arge Herausforderung sein. Wie alle Schreiber, schont auch der Autor Jandl seine engere Umgebung nicht, bindet diese in seine Geschichten ein und diskutiert beim Leichenschmaus mit einem Ignoranten aus der Verwandtschaft über seine gesellschaftspolitischen Thesen, schweigt am Ende verdrossen und sehnt sich zurück an den Schreibtisch.

Der Satz „Meine Frau teilt meine Ansichten“ könnte aus einem Napf’schen Anekdotenfundus stammen; über sich selbst hat er das nie gesagt; der Satz würde Dagmar Jandl, die 1968 als Lehrerin nach Nordstetten kam und derentwegen die Familie hier ansässig wurde, auch nicht gerecht. „Meine Frau“, sagt er, „hat natürlich gespürt, dass da was raus muss.“

Einmal, 1994, hat es Jandl mit der praktischen Politik versucht. Er kandidierte für den Gemeinderat und sollte den Vorsitz des CDU-Stadtverbands übernehmen. Die Dörfler links des Neckars wählten ihre braven Handwerksmänner aus dem Ort ins Gremium, dem intellektuellen Klugscheißer Jandl, von dem sie sich als Karl Napf durchaus gut unterhalten wussten, misstrauten sie. Jandl scheiterte krachend.

In einem kategorischen Land, das nach E- und U-Kultur sortiert und im Zweifel das Krachlederne dem Schrägen vorzieht, ist dies vielleicht das größte Hindernis für ein offenes unverstelltes Miteinander und Fortkommen: dass Klassik und Volksmusik, Chansons und Schlager niemals zueinander kommen werden; dass ein volkstümlicher Humorist kein Intellektueller sein darf und ein Staatsbeamter kein Liebhaber der Kultur und Sachverständiger für weitere Lebenslagen.

In diesem Punkt war die Gesellschaft schon einmal weiter. Auch deshalb erscheint Jandl einem wie eine Figur aus Musils „Mann ohne Eigenschaften“, Vertreter der ausgestorbenen Spezies des intellektuellen Staatsbeamten der untergegangenen K. u. K.-Monarchie und verwandt mit Seiner Erlaucht Graf Leinsdorf, Erfinder der Parallelaktion.

Interdisziplinär interessiert, bestallt mit umfassendem Wissen, erfahrungsgesättigt durch neugierigen Umtrieb in den Verästelungen von Staatsapparat und Kulturbetrieb, wach und jungenhaft unruhig, brennt er für die gerechte Sache und ist so einer der wenigen Denker in der Region.

Und mehr: Weil er eben nicht im Salon hockt und in der VIP-Lounge, sondern das Maul aufmacht und Sachen sagt wie:
„Die meisten Leute haben eine Lernfähigkeit gleich Null“, ist er einer der wenigen ernstzunehmenden Intellektuellen am oberen Neckar.

Wer mehr wissen will über Ralf Jandl, dem sei sein Karl-Napf-Buch „Der wahre Jakob“ (DVA, 2003) empfohlen. In dieser amüsanten Autobiographie steht, wofür hier kein Platz ist: in Vaihingen aufgewachsen, in Tübingen studiert usw.

Fragte man Ralf Jandl, was er sich zum Geburtstag wünsche, würde er antworten: „Eine neue Gesellschaftsordnung.“ Hier sind sechs Jandl’sche Thesen, so könnte ein neues Miteinander aussehen:

1. Wahrhaftigkeit: Von den Tatsachen ausgehen und diese nicht vorher ideologisch oder religiös sortieren!

2. Gleichberechtigung: Chancen für alle nach ihren Fähigkeiten!

3. Bildung: Nicht reine Wissensvermittlung, sondern Aufklärung im Sinne Kants und Vermittlung von Menschlichkeit!

4. Humanität: Der Mensch muss immer Vorrang vor dem Kapital haben!

5. Einsicht: Das Ende des Wachstums ist erreicht, wer anderes sagt lügt und treibt die Menschheit ins Verderben!

6. Ethos: Die Menschen, ob weiß, braun oder gelb sind nicht gleichartig, aber gleichwertig!

(Südwestpresse, Horb, 18. 12. 2012)

 

/ralfjandl/70.php | anares.org | comenius-antiquariat.ch Samuel Hess 2005