Süß Oppenheimer Nr. 16
Stuttgarter Lügen über Joseph Süß Oppenheimer
in der „Illustrirten Welt“ 1868
Im Unterhaltungsblatt „Die Illustrirte Welt“ von Stuttgart, gegründet 1852, erschien 1868 komprimiert alles, was der gebildete Stuttgarter an Hass-Nachrichten über den 1738 hier ermordeten jüdischen Geschäftsmann und herzoglichen Finanzberater Joseph Süß Oppenheimer wissen musste.
Das Konzentrat schlimmster Bosheiten erschien noch vor der Geburt des modernen Antisemitismus nach der Gründerkrise von 1873, als ein Börsenkrach die Wirtschaft erschütterte und die gedankenlosen Wirtschaftsbürger so gründlich verwirrte, dass sich viele zum Judenhass hingezogen fühlten – und ihre Nachkommen generationenlang dabei blieben, bis in die heutige Zeit.
„Aus der Judengasse in Stuttgart.
Es gibt nicht wohl einen Staat in Deutschland, welcher die Juden barbarischer behandelt hätte, als das alte Herzogthum Württemberg;1 erst das Königreich Württemberg vertauschte diese Unduldsamkeit mit einer vollständig bürgerlichen Gleichstellung der Juden und Christen.2
Die Herzoge (!) Eberhard (1457-1496), Ulrich (1498-1550) und selbst der milde Christoph (1550-1568) hatten sie aus dem Lande verbannt und ihnen bloß den Durchwandel ohne allen Verkehr mit der Bevölkerung gestattet. 3
Herzog Friedrich zeigte sich etwas duldsamer, aber die ‚Landschaft’, d. h. die Stände des Herzogthums, waren auf der Hut, tadelten die Toleranzmaßregeln des Herzogs und setzten deren Zurücknahme durch, indem sie die Juden schilderten als ‚hochbeschwerliche Leute, welche mit unehrlichem, unziemlichem Gewerb das Volk verderben, zu üppigem, verschwenderischem Leben, sogar zu Raub und Stehlen treiben und das Betrügen viel weniger lassen können, als die Katze das Mausen’ (18. März 1598); 4
die Landesordnung von 1621 endlich bezeichnet die ‚Jüdischheit’ als ‚schädlich nagende Würm’, gestattet aber den Juden, beim Durchzug durch das Herzogthum unter Begleitung eines christlichen Aufsehers, den sie selbst bezahlen mußten, e i n e Nacht zuzubringen.
In Stuttgart mußte dieses Uebernachten in der ‚Judengasse’ stattfinden, und so erscheint diese in dem dichtbevölkerten östlichen Stadttheil, im sogenannten ‚Bohnenviertel’5 gelegene Straße weniger als eine Straße, deren Häuser im Besitz von seßhaften Juden waren, denn als eine Herberge für die nach der Landesordnung durch das Herzogthum ziehenden Israeliten.
Die stuttgarter Judengasse entbehrt, im Gegensatz zu ihrer frankfurter Namensschwester, jenes romantischen und geheimnißvollen Wesens, das letztere so ungemein interessant macht.
Ihre Häuser sind meist niedere, zweistockige, höchstens dreistockige Gebäude von hausbackener, nüchterner Fachwerkskonstruktion, bewohnt von Weingärtnern und kleinen Handwerksleuten etc.
Daher sticht das in unserer Abbildung gegebene Haus mit seinen Rundbögen und Wappenschildern, und korinthischen Säulen im Erdgeschoß immerhin vortheilhaft von seinen Nachbarn ab.
Es soll das Haus des berüchtigten Landverderbers Joseph Süß Oppenheimer, Finanzministers unter Herzog Karl Alexander von Württemberg (1734-1737), aus der ersten Zeit seines stuttgarter Aufenthalts gewesen sein. 6
Auf dem Höhepunkt seines Glückes und seiner Macht angelangt, hat er sich jedoch in einem fashionableren Stadttheil ein prachtvolles Hotel erbauen lassen. 7
Dieses schmückte er aufs Kostbarste aus, zahlreich war seine Dienerschaft, seine Stall voll auserlesener Pferde, seine Tafel, an welcher zu sitzen die vornehmsten Beamten für eine Ehren halten mußten, mit auserlesenen Speisen und Getränken besetzt.
Er, der auf raffinirteste Weise das Volk aussaugte, 8 Alles zum Regierungsmonopol gemacht, 9 das Vermögen der Korporationen, der Wittwen und Waisen geplündert10 und den schamlosesten Aemterhandel11 eingeführt hatte, nur um dem allzeit geldbedürftigen, kriegslustigen und verschwenderischen Herzog12 zu dienen, wobei natürlich ein großer Theil des Ergebnisses dieser blutsaugerischen Geldschneidereien in seine eigene Tasche floß, 13 trachtete nach dem höchsten Würden.
Schon unterhandelte er wegen Erhebung in den Adelstand am wiener Hof14 und dachte sogar an – den Landhofmeister, d. h. an die Stelle des dirigirenden Ministers. 15
Da starb Karl Alexander im ludwigsburger Schloße am 17. März 1737 überraschend schnell. Man sagt, durch diesen Tod seien weitgreifende Anschläge gegen die Verfassung des Landes, die evangelisch-lutherische Kirche Württembergs (der Herzog war katholisch) etc. zu nichte gemacht worden. 16
Unmittelbar nach dem Hingang des Herzogs wurde Süß durch den Burggrafen von Röder verhaftet, und zwar auf der fluchtähnlichen nächtlichen Reise nach Stuttgart, 17 wo er bei der nunmehrigen Herzogin-Wittwe das ihm von Karl Alexander ausgestellte sogenannte ‚Legitimationsdekret’ vom 12. Februar 1737, das befahl, ihn für alle seine vergangenen und künftigen Handlungen nie zur Verantwortung zu ziehen, als Schutz gegen die, wie er wohl wußte, unausbleibliche Verfolgung der ‚Landschaft’ geltend machen wollte. 18
Nach der Sage ereilte ihn auf dem Brücklein über den Feuerbach bei Zuffenhausen sein Geschick, 19 und heute noch geht im Munde des Volks das Sprüchlein:
‚Da sprach der Herr von Röder:
Halt! oder stirb entweder!’
Seine Vergehen zu untersuchen wurde eine eigene Kommission von Mitgliedern des Geheimenraths, der Regierung und der Juristenfakultät Tübingen eingesetzt. 20 Das Volk lechzte nach seinem Blute, 21 und mit der Anklage war sein Schicksal entschieden. 22
Man spricht nichts Gutes von der Art der gegen ihn verhängten Untersuchung. 23 Die Unparteilichkeit der Richter litt unter dem Haß, den das Böse, das er dem Land zugefügt, und der Uebermuth, 24 mit dem er in den Tagen seines Glücks Alle behandelte, hervorgerufen hatte.
Er allein wurde zum Tode verurtheilt, seine Gehülfen, die Hallwachs, die Remchingen, Bühler, Scheffern etc. kamen besser, meist mit Verbannung und Herausgabe des Erpreßten davon.
Am 4. Februar 1738 wurde Süß das Todesurtheil eröffnet. Er stand tief erschüttert und bat um sein Leben. Alles wollte er dafür hingeben. 25
Erst als er sah, daß nichts ihn retten konnte, verwandelte sich seine Niedergeschlagenheit in Zorn, laut klagte er seine Richter der Ungerechtigkeit an und forderte sie vor Gottes Gericht, um Rechenschaft von seinem Blute zu geben. 26
Gewiß würde heutzutage kein ordentliches Gericht in einem solchen Falle auf den Tod erkennen. Nur mit Gewalt konnte er auf den Karren des Henkers gebracht werden. Langsam fuhr er nun unter einer starken Bedeckung von Grenadieren zum Richtplatz. 27 Hintendrein eine zahllose Menschenmenge, die ihn mit Scheltworten, Spottliedern, Koth- und Steinwürfen verfolgte. 28
Er erlitt den Tod am Galgen, indem er in einem für den Goldmacher Honauer (1597) besonders dazu gefertigten Käfig aufgehängt wurde. 29 In zahllosen Flugschriften in gebundener und ungebundener Rede sprach sich der Haß gegen Süß und seine Anhänger damals aus, 30 die Juden in Fürth dagegen erklärten ihn für einen Heiligen und Märtyrer. 31
Seine Geschichte ist, besonders was seine letzten Tage betrifft, ausführlich beschrieben, auch sein Bild mit Kupferstichen von seiner Hinrichtung, dem Galgen mit dem Käfig etc. beigefügt.
Die Titel der wichtigsten Schriften sind:
Cüriöse Nachrichten aus dem Reiche der Beschnittenen, Unterredungen zwischen Scoè und Jud Joseph Süß Oppenheimer 1737 und 1738, vier Stücke, 4.
Bernhards ausführlicher Diskurs von des Juden Süßen letzten Tagen 1738, 4.
Der in den Lüften schwebende jüdische Heilige 1738, 4. 32
Wilhelm Hauffs Genius aber benützte diese interessante Episode aus der württembergischen Geschichte zu einer seiner reizendsten Novellen, zu dem Jud Süß’. 33
(ENDE)
WIDERLEGUNG URALTER WÜRTTEMBERGISCHER BOSHEITEN ÜBER JOSEPH SÜSS OPPENHEIMER IN VERGNÜGTEN FUSSNOTEN
von Hellmut G. Haasis
1 Württemberg nahm keine Sonderstellung ein. Die Vertreibung der Juden um 1500 fand in vielen deutschen Staaten statt. Nur kluge Landesherren ließen Juden im Land oder später wieder zu, weil diese ihnen mehr Steuern einbrachten als die christlichen Bürger. Als relativ duldsam tat sich die Kurpfalz hervor, aus der Süß stammte, er war 1698 in Heidelberg geboren. Hier wäre Baruch Spinoza beinahe Professor für Philosophie geworden. Was für eine Chance für das zurückgebliebene Deutschland.
2 Erst 1864, als spätes Nachklingen der 1848er Revolution.
3 Nur durch kaiserliche Anordnung bekamen die deutschen Juden das Recht, auf der Reichsstraße durch Württemberg zu ziehen. Dennoch pflegen die Württemberg noch heute das Märchen, sie wären immer ein vorbildliches Land gewesen, fast schon eine Demokratie.
4 Diese Verleumdung machte ein wesentliches Stück der württembergischen „Staatstheorie“ aus und findet sich aus vielen Landesteilen bezeugt.
5 Das Bohnenviertel hat seinen Namen bis heute nicht verloren, hier liegt ein Rest der Stuttgarter Altstadt, Nähe Charlottenplatz, bei der Esslinger Straße. Die alte Judengasse trägt heute den Namen Brennergasse, eine Querstraße zur Esslinger Straße und Webergasse.
6 Dass Süß hier gewohnt habe, ist absolut falsch. Die richtigen Angaben finden sich breit erforscht und dokumentiert in der Biografie: Hellmut G. Haasis: Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß. Finanzier, Freidenker, Justizopfer. 2. Aufl. Rowohlt Reinbek 2001. Süß wohnte zuerst in der Münze in der Dorotheenstraße, zog dann nach Ludwigsburg, in zwei stattliche Anwesen, acht Wochen vor seiner Verhaftung bezog er zuletzt ein Palais in der Seegasse, heute Friedrichstraße. Er durfte das Anwesen nicht selbst kaufen, musste dafür einen Strohmann einschalten. Nach Süß’ Hinrichtung stellten die Geheimräte enttäuscht fest, dass das Palais noch gar nicht bezahlt war. Den Hassgeschichten tat das keinen Abbruch.
7 Gemeint ist das Palais in der Friedrichstraße, das bereits stand. Die Behauptung eines Neubaus ist falsch, in der kurzen Zeit auch unsinnig.
8 Dass Süß das württembergische Volk ausgesaugt habe, stellt ein nicht sterben wollendes Landesmärchen aus dem MUSCHTERLÄNDLE dar, an dem mit viel Liebe und patriotischer Beschränktheit Generationen von Professoren und Lehrern gestrickt haben. Nie wurde auch nur der winzigste Nachweis geführt, was für Hasslegenden ja normal ist, denn die historische Wahrheit sieht immer bescheidener aus.
9 Peinlich viele württembergische Historiker haben ihren Blick nie über die Landesgrenzen hinaus schweifen lassen, sie hätten entdeckt, dass Staatsmonopole auf Produkte und Handel zur merkantilistischen Wirtschaftspolitik gehörte, wie sie damals in Europa üblich war. In Wirklichkeit erreichte Süß kein einziges Monopol. Man warf ihm die Einführung von 50 Monopolen vor, die aber nie in Kraft traten.
10 Auch diesen Vorwurf mussten die Kriminalrichter im Prozess fallen lassen, aber da das Verfahren geheim durchgeführt wurde, hat davon die Historikerzunft lange nichts etwas erfahren – auch gar nicht wissen wollen.
11 Der Verkauf von Ämtern war in vielen europäischen Staaten üblich, Folge davon, dass die zahlungskräftigen Wirtschaftsbürger nicht regelmäßig und nicht zuverlässig oder gar keine Steuern zahlten. Deshalb musste der Landesherr einträgliche Ämter gegen Geld verkaufen. Die armen Amtsträger klagten zu Unrecht, kaum einer von ihnen nagte aufgrund der allgemeinen Korruption am Hungertuch.
12 Alles Unfug. Der Herzog zettelte keinen Krieg an. Als Mitglied des Schwäbischen Reichskreises kommandierte er in einem der üblichen Kriege gegen Frankreich (polnischer Erbfolgekrieg 1733-1738) nur bescheidene Truppen, die nie zu einer Schlacht reichten. Seine ganze Kriegslust bestand darin, im Lager bei Mannheim zu liegen, sich eine Blasenentzündung zu holen und seine Truppen hin- und hermarschieren zu lassen, was denen außer wunden Füßen keine amtlich bekannt gewordenen Beschwerden einbrachte. - Die Verschwendungssucht des Herzogs hat bis heute kein Historiker belegen können. Das Land beherrschten die evangelischen Landstände, ein patrizischer Klüngel von lauter hohen Amtsträgern, die das Land ausnahmen, die Steuern einzogen und sich selbst von den Steuern befreiten. Nie hat jemand eine Kontrolle ihrer Einnahmen und Kassen vorgenommen, was dem Massendiebstahl an Steuern der einfachen Leute Tür und Tor öffnete. Statt sich selber der Kontrolle zu unterwerfen, riefen die besseren Herrschaft durch Jahrhunderte, der Heidelberger Jude habe das Volk ausgesaugt.
13 Die geheimen Kriminalrichter konnten nichts von diesem Totschlagmärchen belegen.
14 Den Versuch der Nobilitierung durch den kaiserlichen Hof in Wien unternahm Süß auf Initiative des Herzogs. Süß selbst war die Sache nicht sonderlich wichtig, die übrigens nichts wurde, weil Wien einen Juden nur in den Adelsstand erhob, wenn der sich gleichzeitig taufen ließ. Aber Süß wollte beim jüdischen Glauben bleiben – was ihm die Württemberg nie verziehen haben. Im Kriminalverfahren versuchten einige Richter, aus dem Nobilitierungswunsch den Vorwurf des Hochverrats abzuleiten. Das war selbst der Mehrheit zu abwegig.
15 Diesen Unsinn erhoben nicht einmal die Kriminalrichter zur Anklage, es sollte den Historikern überlassen bleiben.
16 Ein württembergisches Lügengebäude behauptete zäh, der Herzog hätte 1737 mit Hilfe katholischer Truppen des Erzbischofs von Würzburg einen Staatsstreich durchführen, die evangelischen patrizischen Landstände absetzen und den Katholizismus als Zwangsreligion einführen wollen. Im Geheimprozess fiel diese Lügenwelt in sich zusammen. Lange hielt sich die erotische Version, ein Diener habe dem Herzog vor dem Sex mit einer neuen Tänzerin zu viel eines Aphrodisiakums verabreicht, mit der Absicht, den Herzog umzubringen – was gelungen sei. Der Diener habe dafür von den Landständen ein großes Geldgeschenk bekommen. – So viel kriminelle Rafinesse ist den knochentrockenen württembergischen Patriziern nicht zuzutrauen. Niemand hat das winzigste Indiz für eine solche Verschwörung gefunden.
17 Süß nahm sofort nach dem Tod in Ludwigwsburg eine Kutsche und lud Baron Röder ein, mitzufahren. Von Flucht keine Rede. Süß kondolierte der Herzogin, der Herr Baron hatte als stoffliger Geheimrat nicht die geringste Lust dazu. Als Süß herauskam, entschloss sich Röder blitzschnell, dem Recht das Genick zu brechen, Süß ohne Haftbefehl festzunehmen und in dessen Palais in Hausarrest zu setzen. Röder hatte guten Grund dazu, denn Süß hatte dem Herzog wenige Tage vorher mitgeteilt, er sei auf gewaltige Unterschlagungen im Marstall durch Röder gestoßen. Röder glaubte, mit der Ausschaltung des Anklägers davonkommen zu können. Später zog ihn die Regierung doch noch zur Verantwortung. Dieser Geheimrat, der dem Herzog riesige Mengen Geld stahl, gehörte lange zu den Schießbudenfiguren des württembergischen Patriotismus.
18 Das angebliche Legitimationsdekret hieß in Wirklichkeit Absolutorium und war eine damals an deutschen Höfen übliche Regelung, um nach dem Ableben des Landesherrn einem jüdischen Hoffaktor oder Geschäftsmann die zu erwartende Vernichtung seiner Existenz zu ersparen. Ansonsten hätten jüdische Geschäftsleute büßen müssen, dass nach dem Tod des Herrschers die Regierungsräte am rechtlosen Juden ihr Mütchen kühlten, unter Diebstahl von dessen Vermögen.
19 Bis heute lebt die Legende, Süß habe aus dem Hausarrest entfliehen können, wäre aber unterwegs von Husaren, der Polizeitruppe, des Landes, eingeholt worden. In Wirklichkeit war sein Palais militärisch besetzt, es gab keinen Ausweg.
20 Die Vormundschaftliche Regierung setzte eine geheime Untersuchungskommission ein, die als Gerichtskollegium die Verhöre und Ermittlungen führte. Von der Regierung war niemand dabei. Bei größeren Sitzungen nahmen auch zwei Beisitzer der Tübinger Juristenfakultät teil, Rechtsprofessoren, die gegen alle geltenden Gesetze Süß ohne Spur von Beweisen zum Tod verurteilten.
21 Absoluter Unsinn. Das so genannte Volk von Stuttgart hatte bei diesem Geheimverfahren nicht die geringste Kenntnis von der Anklage, den Verhören und den Ermittlungen. Nur als Süß nach der ersten Woche Hausarrest im März 1737 mit einer Kutsche und anderen Gefangenen aus Stuttgart über den Bopser auf den Hohenneuffen bei Nürtingen gefahren wurde, kam es zu einem kleinen Auflauf, von Gaffern und Kindern. Zugespitzter wurde die Situation, als Süß Ende Januar 1738 vom Hohenasperg zu seinem letzten Haftort im Herrenhaus auf dem Marktplatz in die Stadt hineingefahren wurde. Hierzu waren die Gaffer aufgehetzt, vermutlich von Geheimräten, Regierungsleuten, eventuell auch den Landständen. Die Nationalsozialisten griffen im Hetzfilm „Jud Süß“ (1940) von Veit Harlan auf diese Behauptung zurück, wonach es gegen Süß sogar zu einem Volksaufstand gekommen sei. Das glauben heute sehr gerne Historiker, Cineasten und Dramatiker.
22 Eine Anklage wurde nie erhoben, es gab keine Anklageschrift, Süß verteidigte sich immer gegen ständig wechselnde Beschuldigungen, die Richter waren sich ihrer Sache von Anfang bis Ende nicht sicher. Bei der letzten Sitzung, in der sie über die Begründung des von Anfang an fest stehenden TODESURTEILS beratschlagen sollten, fiel ihnen alles auseinander. Jeder Richter klammerte sich an eine andere Vortäuschung von Vergehen. Den Vogel schoss ein Sex-Phantast ab, der für das Todesurteil wegen des crimen onaniticum (Verbrechen der Onanie) plädierte. Hätte man damit in Stuttgart allgemein ernst gemacht, wäre die Landeshauptstadt in wenigen Tagen ENTVÖLKERT gewesen.
23 Unmöglich, denn bis 1918 blieben die Prozessakten unzugänglich, niemand durfte sie lesen.
24 Warum zweifelt der selbst gehässige, vorurteilsbeladene Autor auf einmal den Prozess an? Erstaunlich, dass sich immer wieder auch bei anderen Autoren (seit Wilhelm Hauff) leise Zweifel an der Rechtmäßigkeit finden, obwohl das tödliche Verfahren gegen Süß insgesamt für recht ausgegeben wird.
25 Das Todesurteil wurde im Saal im ersten Stock des Herrenhauses verkündet, das sollte bei offenen Türen geschehen, damit viele zuhören konnten. Auch diese Rechtsvorschrift wurde nicht eingehalten.
26 Es zeugt vom schlechten Gewissen des Autors, dass der historisch zutreffende Appell von Süß an ein göttliches Gericht in dieser Darstellung nicht unterdrückt wurde. Dieser Gedanke von Süß führte mich schon vor langer Zeit zu einer eigenen Erzählung, die keinen Frieden machte mit der alterprobten Stuttgarter Taktik, den eigenen tödlichen Antisemitismus einfach durch Schweigen aus der Welt zu schaffen: Hellmut G. Haasis: Joseph Süß Oppenheimers Rache (1994).
27 Die Vormundschaftliche Regierung hatte solche Angst vor dem sterbenden Süß, dass sie die Stadt von 1.800 Soldaten kontrollieren ließ.
28 Diese Hasstaten gegen Süß ist in der Masse von mir zu Tage geförderten Quellen nicht bezeugt, insofern kaum wahrscheinlich. Solche Ausbrüche zu verhindern, gehörte zu den Aufgaben der Soldaten, die mit 3.000 Mann auch stark genug dafür war.
29 Falsch. Der Käfig wurde extra für Süß von der ganzen Schmiedezunft angefertigt, wie aus den Prozessakten hervorgeht.
30 Die Flut dieser zeitgenössischen Blätter, die meisten sind Radierungen, ist erhalten in der Württembergischen Landesbibliothek und im Stadtarchiv und kann dort Blatt für Blatt studiert werden. Die Blätter und ihre Inhalte sich analysiert von Barbara Gerber: Jud Süß. Aufstieg und Fall im frühen 18. Jahrhundert (1990).
31 Hinter dieser Falschmeldung verbirgt sich eine vage Kenntnis von der geheimen Denkschrift der Stuttgarter jüdischen Gemeinde, die bis heute von der Geschichtsschreibung nicht zur Kenntnis genommen wird, dabei ist sie 1995 in einer Totengedenkschrift erneut herausgekommen. Salomon Schächter: Relation von dem Tod des Joseph Süss, seel. Gedächtnus, Fürth/Stuttgart 1738. Nach d. Verlust d. Originaldr. in einer alten Übersetzung hrsg. von Hellmut G. Haasis. Reutlingen Der Freiheitsbaum 1994. 15 Bl. Diese Schrift kam in einem einzelnen hebräischen Blättchen heraus, in der jüdischen Druckerei von Chajim ben Zvi Hirsch in Fürth. Der Nachdruck in einer zeitgenössischen deutschen Übersetzung ist in der Württembergischen Landesbibliothek lesbar, als bibliophile Edition nur im Lesesaal.
32 Alle Titel zu lesen in der Landesbibliothek Stuttgart, Lesesaal für Alte Drucke. Nachgewiesen im online-Katalog, man gibt ein das Stichwort: Joseph Süß Oppenheimer.
33 Erstveröffentlichung 1827 im „Morgenblatt für gebildete Stände“, Stuttgart. Seitdem gehören in der Stadt Bildung und Judenhass häufig eng zusammen.
Aus der Judengasse in Stuttgart. Erstes Wohnhaus des Jud Süß
(Die Illustrirte Welt. Stuttgart 1868, Nr. 35, S. 409; Stahlstich Stuttgart 1868, ein Fantasieprodukt, die gesammelte Stuttgarter Gehässigkeiten finden sich in der Zeitschrift auf S. 414, ein Katechismus des älteren Antisemitismus, hier wörtlich nachgedruckt)