haasis:wortgeburten

 

HÖLDERLIN IM FUNKHAUS

Der letzte runde Geburtstag war dem SCHEUEN FRITZ auf dem alten Tübinger Friedhof nun wirklich zuviel geworden. Vorgestrige Herren hatten ihn wieder einmal mit Kränzen, Schleifen und Ansprachen belästigt. So hatte er sich die EWIGE Ruhe nicht vorgestellt.

In der nächsten Nacht drückte er nach oben, schob auf seinem Grab den ganzen Plunder beiseite und begann, durch den Schönbuch nach Stuttgart zu TROTTEN. Wie er am nächsten Mittag über die Schnellstraßen und Autobahnzubringer SCHLURGELTE HYPERLINK "http://cscedition.blogger.de/stories/1507221/" \l "1507248" *, hätte er schon auffallen müssen.

Aber es war ein Werktag, in den eiligen Autos hatte niemand Zeit, einen Blick auf den LANDSTREICHER zu werfen. Abgerissen Kleider und Schuh, den turmhohen Wasserkopf nicht einmal gekämmt, die Hände seit undenklichen Zeiten nicht mehr gewaschen, die Fingernägel kohlrabenschwarz.

Endlich wollte auch er etwas in Stuttgart sagen, über sich selbst. Am Fuß der Weinsteige angekommen, ließ er sich den Weg in die Landesbibliothek zeigen. Er landete nebenan, im AMERIKAHAUS. Ein Wachsoldat warf ihn hinaus, ein Haus weiter. Dort begrüßten ihn lauthals andere Penner, boten ihm Rotwein an. Hölderlin, in gehobener Stimmung, murmelte etwas von BROT UND WEIN. Von Brot wollten die anderen nichts wissen. Mit Fußtritten stießen sie ihn weg.

Eine Bibliothekarin beobachtet ihn, wie er interessiert, dann mit Freude ein Plakat des Marbacher Literaturarchivs über sich selbst studiert. Ihr vertraut er an, dass er etwas zu Hölderlin zu sagen habe.

Als Liebhaberin PHANTASTISCHER Literatur rechnet sie mit jeder Unwahrscheinlichkeit und weist ihn hinauf ins Hölderlinarchiv. Dort stößt er in eine kleine Geburtstagsrunde und bekommt Kaffee und Kuchen angeboten.

Die Fröhlichkeit erstarrt, als einer älteren Frau entfährt, der arme Teufel sähe fast wie der Friedrich Hölderlin aus. Er wird nach Wer, Wohin und Absicht gefragt. Aber als er mühsam nach Worten sucht — er will schließlich nicht schlechter sprechen, als er gedruckt worden ist — hört ihm niemand zu.

Nach einer halben Stunde zieht er geschlagen die Tür hinter sich zu. Dann will er in den Katalogen lesen, kommt damit aber nicht zu Streich. Eine junge Frau an der Information erklärt ihm alles, spricht aber für ihn viel zu schnell.

Er hört sowieso nicht zu, schaut sie nur gebannt an und stammelt mehrmals «Diotima». Sie stört sich daran nicht. Sie weiß, wie anziehend sie wirkt und wie viele Fragende sie mit verwirrtem Kopf hat heimgehen lassen. Und sie hat hier schon viele WEGGETRETENE beraten, die nur noch in der Bücherwelt atmen.

Einer Frau an der Garderobe klagt er sein Leid, er habe etwas Wichtiges zum alten Hölderlin zu sagen. Die rät ihm — warum weiß sie selbst nicht — vielleicht wäre er im Rundfunk am rechten Platz. Er schleppt sich dorthin.

Am Eingang schnauzt ihn ein Uniformierter des BETRIEBSSCHUTZES an, hier seien Betteln, Hausieren und Saufen verboten. Hölderlin mit gesenktem Kopf und leiser Stimme, er werde hier erwartet. Wo? In der Literaturabteilung. Man weist ihn nach oben.

Ein Redakteur fühlt sich gestört, er habe keinen Termin vereinbart und noch ein Manuskript zu korrigieren. Und überhaupt: wer er denn sei? Dem Fragenden fällt das Gesicht auseinander, als er die freche Antwort hört. Raus du Hochstapler, ALTER SCHARLATAN.

Der Hinausgeschmissene wird noch in anderen Abteilungen herumgereicht: Kultur, Bildung, ernste Musik, selbst in der Unterhaltungsmusik. Man schickt ihn in eine laufende Sendung aus dem wilden Süden.

Die beschwingten Spätjugendlichen reagieren stocksauer, weil sie auf eine Rockband warten und dieser komische Alte hereingeschneit kommt, seiner Sinne und Sprache nicht mehr ganz mächtig.

Am Ende landet der Orientierungslose im Hochhaus ganz oben, bei der Abteilung für Land und Leute. Ein Nordlicht mit schwäbischen Anklängen spielt gleich, holt ein Tonband und fragt den überalterten Zeitzeugen aus.

Hölderlin fühlt sich ernst genommen, holt weit aus und strapaziert die Geduld des Redakteurs. Er redet von Württembergs damaligen Hoffnungen auf eine große Republik im deutschen Süden, vielleicht gar zusammen mit der Eidgenossenschaft.

Er spricht von seiner zunehmenden RATLOSIGKEIT, als alles in Enttäuschung endete, auch seine Liebe in Frankfurt. Der Redakteur fällt befriedigt ein: Diotima? Die Augen des Alten glänzen ein letztes Mal. Dann verliert sich das Interview im Tübinger Turm.

Der Redakteur hält sich mit Mühe am Mikrofon fest. Nach einer Stunde ist das Tonband abgelaufen. Hölderlin bekommt in der Kantine ein Gästeessen. Seine Augen haben den Glanz verloren. Er stiert vor sich hin, stochert in der Gemüsesuppe herum. Als der Redakteur später kopfschüttelnd in das Interview hineinhören will, stellt er erleichtert fest: wegen eines Defektes wurde KEIN EINZIGES Wort aufgenommen.

Hellmut G. Haasis

(1993 erschienen im „Laubacher Feuilleton“, später mehrfach nachgeruckt)

 

NACHWIRKUNG
beim neuddruck 2009 ergab sich eine vergnügliche diskussion. so iss-es mit dem schwäbischen heute. aber wir geben nicht auf. etzad airsch räacht ed. in 100 jahren wird alles sowieso vom chinesischen dominiert.

*Schlurgeln ist ein schwäbisches Wort und meint eine schleppende Gangart, bei der die Füße nicht angehoben werden. Eine Wortmalerei, die in den Duden aufgenommen werden muss.

HYPERLINK "http://periplus.blogger.de" ulfur grai   (03.12.09, 09:45)  
Na, das fehlte gerade noch!
"Wir können alles außer Hochdeutsch", aber in den Duden wollen.
Da steht für die gleiche Gangart längst das nicht weniger lautmalerische Schlurfen.

Sind die Homburgerisierung des deutschen Fernsehens, Brüderle-isierung der Bundesrepublik und die Veroettingerung Europas nicht schon weit genug fortgeschritten? Schlimm genug, sich vorstellen zu müssen, wie der verwahrloste Poet mit den langen, schwarzen Fingernägeln aufs Pult skandierte: "Hälfte desch Läbens".

Also nichts für ungut, aber schlurkeln, ich bitte Sie!

HYPERLINK "http://cscedition.blogger.de/" edition csc   (03.12.09, 12:24)
Erwähntes Schlurfen wurde damals – widerrechtlich oder auch in Unkenntnis – eingesetzt. Daraus erfolgte die obige Korrektur.
Der «Urheber», dieser Sch(l)urkler, ist benachrichtigt. Vielleicht kommentiert er die späten Folgen ja.

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aber natürlich. die schwaben sind an allem schuld, auch an der VERBOULEWARDISIERUNG der deutschen sprache.

und dann hätt’ der schwabe elser uns 1939 beinahe den HALBGOTT hitler geraubt, der auch die deutschen dialekte nicht leiden konnte und den elsässischen gleich 1940 verbieten ließ. –

richtig der obige kommentar. der ulfur grai ist ein heller kopf, dem macht man nix vor.
statt schlurgeln (so kenne ich es aus dem sprachraum mittlerer neckar) heißt es im „schwäbischen wörterbuch“ von hermann fischer/hermann taigel schlurfen.

aber mir läuft das nicht so runter.

schlurfen ist, wenn ich zu faul oder zu müd’ bin und die suppe oder den kaffee nicht anständig in mich hineinbefördere, sondern genüsslich laut einziehe.

ähnlich wird das nichtanheben der schuhe empfunden, wenn man über den boden schlurft.

nur ist da die seltenere form schlurkeln noch schöner, es ist eine sprachliche imitation des geräuschs über dem boden. da holpert was übers pflaster, was das k nachmalt und da l ausklingen lässt. ist das nicht ein SPRACHGEMÄLDE, wenigstens ein kleines?

ja ja der hölderlin. die nordlichter können sich gar nicht vorstellen, wie unerträglich heute für alle SPRACHSAUBERMÄNNER die nationalgestalten hegel, schiller und hölderlin klingen würden.

schad, dass man sie in ihren gesammelten editionen nicht selbst hören kann. nördlich des mains würden sich die meisten DIE OHREN ZUHALTEN – wenn sie die gedruckten texte kennen – oder sie würden von da an die schwäbischen klassiker in die abteilung turk-sprachen oder so ähnlich einordnen. jedenfalls kaum integrationsfähig, die innenminister müssten diese brüder unter TERRORVERDÄCHTIG ablegen.

freut sich diebisch über diese gränzwärtigen gedanken der autor hellmut g. haasis, hart an der schwäbischen alb wohnend, nicht weit zur schweiz, wo sie immer mehr SCHWYZERDYTSCH reden.

wie lange wird das dort noch erlaubt sein? müsste da nicht mal eine deutsche sprachsäuberungstruppe einmarschieren? mit einer SPRACHPANZERSTOSSABTEILUNG vorne draus. TOD ALLEN DIALEKTEN ÜBERALL.

hellmut g. haasis heute 3. dez. 2009
verschlümmbössert 12. märz 2010

Jakobiner-Plakat für die Hölderlin-Veranstaltung des
Republikanischen Clubs Tübingen in der Ammergasse 13
am 20. April 1970. Veranstalter: Geheimer Jakobinerklub
Tübingen. Entwurf und Druck: Hellmut G. Haasis und Peter
Hauschild, Druckerei des RC in der Haaggasse.
Von der Auflage (10 Stück) existieren nur noch 2, davon
1 im Deutschen Literaturarchiv Marbach, 1 im Museum für
Gestaltung Zürich, Abt. Plakatmuseum, Plakatsammlung
Haasis 713.

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