Hellmut G. Haasis in der Alten Schmiede 2014. Die zweite Rolle spricht und
spielt links Iljia Trojanow (geb. 1965)
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Lepusis: Wissen Sie, warum Sie hier sind?
Haasis: Nein, aber ich ahn es.
L: Und?
H: Wer 2000 Jahre Widerstandsgeschichte erforscht hat, ist immer verdächtig. Er weiß zu viel und auch, wie Repression tickt.
L: Was? Ich bin Repression?
H: Sie wären’s gern, aber Sie müssen auf Angsthasen hoffen.
L: Hoffen brauch ich nicht, es gibt sie haufenweise, wohin ich schau.
H: Und wohin schauen Sie?
L: Ins Fernsehen und in die Boulevard-Presse. Die sich auf diesen Schrott verlassen, haben die Hosen voll. Trauen sich nix gegen die Obrigkeit. Schlafen vor der Glotze ein und sabbern sich voll. Sobald eine Uniform auftaucht, ist ihr Mut im Eimer, selbst bei einer Feuerwehruniform.
H: Sie glauben wohl, dass heute alle spuren? Buckel krumm machen? vor der Obrigkeit zittern?
L: Ich glaub nicht, ich weiß es. Widerstand gibt’s nur in Ihren dicken Büchern, Herr Haasis.
H: Haben Sie drin gelesen?
L (entsetzt): Seh ich so aus?
H: Wenn Sie eine Brille aufsetzen, womöglich.
L (setzt die Lesebrille seiner Frau auf): Steht die mir?
H (begeistert): Ungelogen, wie ein Intellektueller morgens um sechs Uhr, wenn Mutti ihn abholt und die Zeche bezahlt. Die ganze Nacht hat er vom Widerstand geschwärmt und am End nicht mal mehr das Pissoir getroffen.
L: Dann tu ich die Brille lieber wieder runter. Schlechte Gesellschaft.
H: Warum schlecht?
L: Zahnlose Tiger, unsere Intellektuellen heute. Werden erst gut und laut, wenn die Ehefrau sie in die Kneipe schickt. Muss ihnen aber vorher noch ein frisches Taschentuch zustecken.
H: Und was geschieht dann?
L: Sie tun, was auch die Polizei mag: Sie träumen von den guten alten Zeiten (wir auch!), als man die Polizei ärgerte (was hatten wir da Bewegung, war gesund!), große Plätze besetzte, normal arbeitende Leute verständlich aufklärte. Aber Gottseidank, Ihre Bücher, Herr Autor, liest man schon lange nicht mehr. Wie aktuelle Texte aussehen müssen, erfahren Sie im Netz: nicht mehr als zwei Sätze, maximal 5 Worte pro Satz, viel Denglisch, zynische Sprüche und Beleidigungen, vor allem Werbung, aber ja keine widerspenstigen Gedanken.
H: Dann werdet ihr ja alle überflüssig: Kripo, Staatsschutz, Geheimdienst. Wer nix im Kopf hat, kann auch nix geheim machen, tut nie was gegen den Strich.
L: Vorsicht. Ihr Untertanen werdet uns zwar immer ähnlicher, aber der Schein kann trügen.
H: Aufwind für mich?
L: Nie unmöglich, denn Leute, die zu arg beschissen werden, von Banken, Politikern und Regierungen, vom Arbeitsamt oder Finanzamt, von Fernsehen und Zeitungen, von Rechtsverdrehern, solche Leute fangen irgendwann an zu grübeln. Leihen sich die falschen Bücher aus. Ich sag: die falschen. Ich bin nicht gegen das Lesen, kommt drauf an, ob unser Zertifikat auf dem Buch klebt. Dann ziehen die aus uralten, lang verstaubten Abwehrkämpfen gegen die Obrigkeit aktuelle Schlüsse, nur falsche.
H: Und wie reagieren Sie drauf?
L (ängstlich): Mit Alpträumen.
H: Wie können wir Ihnen helfen?
L (schreit): Abhauen, Schnauze halten, nur noch Fußball gucken, nix Schwieriges lesen, immer Regierung und Parteien glauben, in die Kirche gehen und niederknien, taubstumm Steuer zahlen und Gott danken, dass ihr überhaupt noch lebt.
H: Zahlt die Heilsarmee Ihnen was für so eine Predigt?
L: WIR SIND die Heilsarmee. Was glauben Sie, was in unsicheren Zeiten los wär, wenn wir nicht dauernd einsatzbereit wären?
H: Glauben Sie, dass Beten gegen Widerstand hilft?
L: Ich glaub nicht, ich weiß es. Schauen Sie die vielen Katholiken an, wie da der Vatikan sedierend wirkt: ein heiliger Apparat als Beruhigungsmittel.
H: Euer Job: Hirne benebeln? Solidarität unterlaufen?
L: Das Wort Solidarität möchte ich nie mehr hören. Ist antistaatliche Pornografie. Schweinigelei, fass ich nicht mal mit Gummihandschuhen an. Gröbste Anarchie, die Solidarität mit Schwächeren. Jeder greift dem andern unter die Arme, statt in den Geldbeutel, wie es unseren christlichen Werten entspräche.
H (ironisch): Amen.
L: Was meinen Sie damit? Sie sind wohl Atheist?
H: Was denn sonst?
L: Aber die Leut brauchen einen Glauben, Himmelnochmal, sonst kennen Sie keine Grenzen mehr.
H: Wie unsere Bänker, Börsenspekulanten und sonstigen Plünderer des Volksvermögens?
L: Ihre Unsachlichkeit verrät nur Ihre Schwäche. Die Leut, die viel, sehr viel Geld auf die Seite schaffen, tun doch nur das gesetzlich Erlaubte. Ist sogar Ihr Verfassungsauftrag. Der Finanzkapitalismus ist was völlig Neues und total legal. Eine WUNDERHEILUNG, um aus der Krise herauszukommen. Wir liegen betend auf den Knien, dass es so weiter gehen möge: aufwärts. So gut wie heut, ging’s mir noch nie, vielen andern auch. Wo wir sind, geht’s hinauf.
H: Kunden ausrauben, aus günstigen Sparverträgen rauswerfen, das Recht brechen, unverständliche Abrechnungen machen? Von ausgeplünderten Steuerzahlern die eigene kriminelle Bankpolitik finanzieren lassen?
L: Aha, daher weht der Wind? Der Herr Widerstands-Historiker ist nur neidisch, weil er es in seinem Autorenleben nicht zu Millionen Gewinnen gebracht hat? Miese Figur, Sie Schreiberling, Sie.
H: Warum ereifern Sie sich so?
L ( laut): Ich weiß, Sie wollen mich bloß ablenken, dass ich Ihren Schmierbüchern über Widerstand, Ungehorsam, Attentate, Volksbewegungen, Streiks nicht auf die Finger klopf.
H: Hoho, viele neuralgische Punkte. Blicken wir da nicht in eine angstvolle Polizistenseele? Ein Abgrund von epochaler Verunsicherung?
L: Was haben Sie gegen uns zu bieten, Sie papierener Armleuchter?
H: Wohin wir schauen, kracht es heute in Europa, massenweise. Größere Volksbewegungen denn je.
L: Ist uns scheißegal, wenn es nur jenseits unserer Grenzen bleibt, am besten bei den Arabern.
H: Lesen Sie keine Zeitung? Haben Sie im Fernsehen noch nie Massen von Streikenden in Frankreich, Griechenland, Spanien, selbst England gesehen?
L (überlegen): Ja auswärts, das ist uns egal. Im Fernsehen werden uns diese Tagdieb bloß für Sekunden zugemutet. Wir haben einen Deal mit den Parteien, Journalistenverbänden und Gerichten: Unruhen nur kurz zeigen, sehr kurz, maximal 8 Sekunden, besser bloß 5. Bei mehr und agitatorischer Ausrichtung greift der Rundfunk- oder Presserat ein: Freistellung des Verantwortlichen für’s Privatleben. Hahaha, war das nicht ein guter Witz?
H: Da müssen Sie arg aufpassen, dass die Frankfurter nichts erfahren von der Boykott-Bewegung gegen die Großbanken in ihrer Stadtmitte.
L: Macht nichts. Wenn die Platzbesetzer es zu schlimm treiben, kommen unsere Spezialtruppen. Haben wir genug, hart trainiert, packen zu. Wissen Sie, dass wir genauso viel Polizisten neu einstellen, wie Arbeitslose und Verzweifelte hinzukommen? Und pro Suizid ein Psychoberater, auch für die Presse. Der Psychiater-Verband achtet drauf, dass kein Toter unterschlagen wird. Ein europaweiter Trend. Sie Herr Widerstandsforscher schlafen derweil selig.
H: Was war mit der Occupy-Bewegung?
L: War da was? Wir haben bei der Kripo nichts damit zu tun gehabt. Nur die Müllabfuhr hatte viel zu aufzuräumen, aber wegen der Kälte brauchten sie kaum Kondome zusammenkehren, wie sonst im Sommer.
H: Es waren Zigtausende, lange Blockaden, Ausnahmezustand in Frankfurt, auch in der Wall Street in New York, selbst in London. Glücklicherweise wurden auch Journalisten eingesperrt und geprügelt. Haben wir uns gefreut.
L: Geht alles vorüber. Schon nach wenigen Wochen sind alle Spuren getilgt. Nix davon erzählen, TOTSCHWEIGEN ist das beste Mittel.
H: Und wenn’s weitergeht?
L: Dann schalten wir unsere 5. Kolonne ein: staatlich kontrollierte, etablierte Intellektuelle, regimetreu. Die mit den schönsten Bucherfolgen kommen dran. Während viele Rentner mit dem Geld nicht mehr auskommen, schwärmen abends unsere Stars für Modetrends, auch im Buchsektor, von ihrem schon morgen verblassenden Ruhm auf den Märkten. Ganz verschweigen dürfen wir die Armut nicht. Jawohl, das sag auch ich. In gewissem Sinn bin ja auch ich ein Intellektueller.
H: Um Spinozawillen, auch das noch. Nix lesen, die Leut verwirren, kleine Täter verfolgen wegen einer gestohlenen Brezel. Ist das die Aufgabe eines Intellektuellen?
L: Es geht nix über eine Talkshow, unsere weitere Geheimwaffe. Sie brauchen nur mit den von uns kontrollierten Einschaltquoten winken, schon hüpfen alle Intellektuellen, Professoren, Werbefuzzis und Presseleute zu uns ins Bett.
H: Kommen wir zurück auf Ihre Stärken.
L: Danke, ich seh’, Sie haben Verstand und wollen zu was kommen.
H: Immer mehr Bereitschaftspolizei, immer stärker militärisch ausgerüstet. Sie haben bei WASSERWERFERN wohl noch Nachholbedarf?
L: Und ob, da ist noch viel zu tun und vor allem einzukaufen.
H: Haben sich bei S21 vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof die Wasserschlacht und das Niederknüppeln ausbezahlt? Der berüchtigte Schwarze Donnerstag 2010? Schwere Augenverletzungen, einer blind. Dumm bloß, dass in der Hauptstadt der Schwaben gerade die aufmerksamen Bürger aufgewacht sind.
L: Ach was, die paar Männeken.
H: Seit dreieinhalb Jahren weit mehr als eine halbe Million Bürger auf der Straße, im engen Talkessel. Jeden Montag. Das geht jetzt schon viel länger als bei den glorreichen Montagsdemonstrationen in Leipzig 1989.
L: In Stuttgart zählte die Polizei viel weniger, kaum die Hälfte. Die andern sind doch Fälscher, Betrüger, das gehört verboten.
H: Und wie zählen Sie?
L: Alter Polizeitrick, lernen wir auf der Polizeifachhochschule, auf Kosten der Steuerzahler. Warten, bis unsere Gegner Ihre Zahlen nennen, dann halbieren, schon steht die amtliche Zahl fest, und wir müssen nicht zählen. Über den Hunderter hinaus leiden die meisten von uns an RECHENSCHWÄCHE. Die Regime-Journalisten folgen uns, wenn sie gescheit sind.
H: Und wenn nicht?
L: Ein Anruf beim Zeitungschef genügt.
H: Passen Sie da auf?
L: Nein, das macht ein Kollege der Presseabteilung, der ist mit allen Mitteln gewaschen. Hat bei BILD gelernt und bereits zwei Journalistenpreise gewonnen. Ist übrigens auch ein Intellektueller, verkehrt im Schriftstellerverband VS, macht bald den Vorsitzenden, sein Brotberuf bleibt geheim. Privat schreibt er Gedichte, die keine Sau lesen will. Zum Schnarchen, der Kerl, aber nützlich, in ein hohes Gehalt eingebettet. Kommt treuherzig daher, echt im Trend der neuen Generation, die nur noch mails und apps liest.
H: Der jetzige Schriftsteller-Vorsitzende ist stolz drauf, dass er im Kampf gegen den Kellerbahnhof S21 neutral war, angeblich. Dem rechtsbrecherischen Oberbürgermeister wollte er bei den Mitgliedern eine Plattform für die staatliche schwarze Agitation bieten.
L: Ist das gelungen?
H: Zum Glück nicht.
L: Warum?
H: Dagegen hetzte eine Gruppe von Widerständlern, die aus dem Studium der Befreiungsgeschichten gelernt hat, wie die Regierenden in trüben Gewässern fischen.
L: Was haben die gemacht?
H: Haben die Mitglieder über die hinterfotzige Strategie der Falschinformation aufgeklärt und eine rabiate Mitgliederversammlung angedroht. Sofort war Schluss.
L: So wie Sie das erzählen, haben Sie wohl selber dabei mitgemischt?
H: Und nicht so knapp.
L: Keine Angst vor Repressalien?
H: Welche denn?
L: Dass Sie keinen Literaturpreis mehr bekommen.
H: Ein durch Schweigen und Kumpanei erkaufter Preis stinkt gegen den Wind.
L: Nicht übertreiben, Sie wissen doch, Geld stinkt nicht.
H: Aber schlechtes politisches Verhalten sehr wohl. Man hört und sieht den Leuten ihre innere Verkrümmung an. Die trauen sich nix, außer sie werden dazu aufgefordert und sind abgesichert.
L: Wie es Intellektuelle eben meistens wünschen.
H: Da haben Sie ausnahmsweise recht. Ich merk, Sie sind gar nicht so blöd, haben nur eine krumm gebogene Seele und kein Rückgrat.
L: Achtung, nicht frech werden. Noch vergess ich nicht alles, was mich trifft.
H: Also gibt’s immer a bissl Widerstand?
L: Herrgottsackrament noch mal, mit Ihrem Gelaber lenken Sie mich ständig von meiner kriminalistischen Verhinderungsarbeit ab.
H: Ja so, Sie haben eine Aufgabe?
L: Hab ich schon gesagt: Ich soll verhindern, dass Sie Ihren Zinken in einen schon lang ausgetrockneten Widerstand hineinstecken. Soll Ihnen das Handwerk legen oder Sie irgendwie an die Kandare nehmen.
H: Auf, dann packen Sie mal zu.
L: Wer hat eigentlich Ihre vierzig Jahre Wühlarbeit in der linken Untergrundgeschichte oder im Widerstand, wie Sie wollen, bezahlt? Da muss es doch einen Sponsor geben, denn ein solches Thema zahlt sich nicht aus.
H: Glauben Sie, die Kripo hat mich subventioniert?
L: Die Amis sind da gscheiter, bezahlten gleich nach dem Krieg ganze Zeitschriften bei uns und Parteien und Rundfunkanstalten.
H: Verlage haben mich honoriert, Leser und Sammler meine Bücher gekauft.
L (lacht): Das erzählen Sie den Zwergen in Ihrem Vorgarten. Mit einem grenzwertigen Buch wie „Spuren der Besiegten“ können Sie doch nicht in die Hitparade des bedruckten Papiers kommen.
H: Aber Literaturpreise kann’s regnen.
L: Was? Die gibt’s noch? Wozu haben wir Sparkommissare?
H: Die pennen oft oder lassen sich bestechen.
L: Ehrlich? Und wie?
H: Mit Einladungen, Ehrungen und endlos vielen Freiexemplaren. Ein großes Tier in den Medien kann im Monat 180 Bücher geschenkt bekommen. Jedes Stück zu 10 Euro verscherbelt, ergibt schlappe 1.800 im Monat, im Jahr über 21.000. Ist auch noch steuerfrei.
L (erbleicht): Gott steh mir bei! Ich steh vor einer tiefen Schlucht von Bestechung.
H (beruhigend): Macht nichts, so ein Typ wie Sie wird danach überall angepumpt. Den Rest verputzt Ihre Frau beim Shopping. Ein gelber Porsche ist auch noch drin.
L: Ach was, Ihre Themen will doch keine Sau wissen.
H: Und welche Themen wären Ihrer Meinung nach erfolgreicher?
L: Krimis, deutsche Literatur ist heute nur noch Krimi. Wie früher Liebesgeschichten oder Familiensagas. Ein depperter Kommissar findet die Leiche nicht, da muss ihm seine Liebesgespielin helfen, die er zweimal in der Woche in der Polizeigarage vögelt.
H: In der Tat, ein fetziges Thema.
L: Und dann der Clou: Ein Kollege klaut aus seiner Dienstmappe die Kondome und schon hat die Kripo ein Problem.
H: Welches?
L: Wer hat vor der Abtreibung den willigen Arzt ermordet? Und noch wichtiger bei den schwarzen Wählern: Was sagt der Bischof dazu?
H: Es war wohl der Jungfrauenschutzverein?
L: Ich seh, Sie sind begabt. Aber ehrlich, so was würd auch mir gefallen, aber die Bischofskonferenz lässt solche Literatur nicht durch.
H: Haben die auch noch ihre Finger drin?
L: Dick, den Wurstfingern eines Uralt-Zölibatärs entgeht nix. Da müssen wir uns vorher hinter seine Haushälterin stecken.
H: Ich seh, auch Sie sind mit Widerstand beschäftigt.
L: Zum Donnerwetter, schon wieder von meiner Aufgabe abgekommen. Jetzt geben Sie doch zu, dass Ihre Themen out sind, mega-out. Schreiben Sie lieber was Fröhlicheres, was auch die einfacheren Leute begeistert.
H: Hab ich gemacht. Widerstand mit einem kräftigen Lachen.
L: Aber doch nicht in Ihren langweiligen „Spuren“?
H: Lesen Sie selbst, Sie sind doch der Kommissar, wenn auch bloß Unterkommissar. Zu einer Beförderung hat’s wohl nicht gereicht?
L (jammert): Ich hab mich mit dem Chef verkracht, als ich ihn bei Schwachsinn ertappte. Der hat behauptet, wir könnten heute viel Geld sparen, wenn wir Wahlen abschaffen, alle Wahlen in ganz Europa. Das mache 28 Milliarden Euro aus und bringe stabilere Verhältnisse in den Abnick-Instituten, genannt Parlamente.
H: Und Sie haben sich getraut, dagegen zu halten, wo es in der POSTDEMOKRATIE doch Trend ist, Abstimmungen des Steuervolks zu beseitigen?
L: Ich weiß, ich bin ein Simpl, es war ein Selbstmordversuch. Aber ich musste, denn mein Großvater war das letzte Gründungsmitglied der Liberalen, bevor sie von der Börse aufgekauft wurden. Also hab ich meinem Chef vorgehalten, meine Frau werde nie auf Wahlen verzichten, sie will unbedingt die freie Wahl ihres Friseurs und ihres Make-up behalten.
H: Und was hat er gemacht?
L: Er hat mich abgemahnt, bedroht, versetzt, gemobbt, verspottet.
H: Solche Mühe?
L (lacht): Aber nach drei Monaten hat er mich befördert, Abteilungsleiter, zwei Gehaltsstufen höher, besserer Dienstwagen, eigener Kaffeeautomat im Zimmer und eine pralle Sekretärin mit Silicon-Busen.
H: Warum das?
L: Er entschuldigte sich, er habe meinen Angriff auf den Staat als Widerstand gegen die Staatsgewalt missverstanden. Aber eine gutachterliche Überprüfung des illegalen Tonbandmitschnitts habe ergeben, ich hätte doch nur die Wahlfreiheit von Frisur und Fußpflege verteidigt. Er müsse in solchen heiklen Fällen seine Frau fragen und die habe mir voll Hals zugestimmt. So war ich gerettet, durch Frauenpower.
H (triumphierend): Also gibt es doch Widerstand.
L (perplex): Meinen Sie? Mitten in der Kripo seien wir schon unterwandert?
H: Nicht bloß, mit den Geschichten von effektivem Widerstand schon zu früheren Zeiten untergraben wir eure Aufgeblasenheit.
L: Sind Sie naiv, Sie vertrauen wohl Ihrer Selbsteinflüsterung?
H: Ich höre zu, wenn irgendwo alte Beispiele erzählt werden.
L: Davon weiß ich nichts. Altes geht mich nix an, wie Lebensmittel nach dem Verfallsdatum.
H: Klar, wenn man nur Kripoberichte liest und höchstens die Tagesschau kennt, erfährt man nicht, wie populär Widerstands-Stories sein können.
L: Aufschneider. Ein Beispiel?
H: In einem Dorf im Süden Deutschlands blühte nach dem Ersten Weltkrieg ein Eulenspiegel auf. Ein Original, von dem die Leute noch 70 Jahre nach seinem Tod Schwänke erzählten. Der hatte einfach keinen Bock, sich für irgendwelche Bosse krumm zu schaffen. Er lebte von Späßen und Leute unterhalten. Am liebsten foppte er in öffentlichen Aktionen alle möglichen Amtspersonen: die Polizei, den Bürgermeister oder den Pfarrer. Den Geistlichen erwischte er in einer Straßenbahn, wo alle zuhörten, wie er von einem Traum erzählte: Er, der Spaßmacher, sei in der Hölle gewesen. Die ganze Straßenbahn hört gespannt zu, der Pfaffe wird nervös, die Pointe nähert sich seiner Figur.
L: Kommen Sie endlich auf den Punkt! Solang kann ich nicht zuhören.
H: Wie der Pfaffe wissen will, was dem Heisel Rein, so nannte man ihm, in der Hölle passiert sei, krümmt der sich und bringt mit Müh raus. „Als ich in der Ecke der Höll einen schönen Ohrensessel seh und mich reinhocken will, kommt der Oberteufel dahergefußelt, packt mich am Schlawittich: Da hocksch du aber net nei. Der Sessel isch reserviert fir da Pfarrer von deim Dorf.“ Unter dem Gelächter der ganzen Straßenbahn stieg der arme Herr Pfarrer aus und wär beinah hingefallen, so peinlich war ihm der Scherz eines modernen Eulenspiegels.
L: Und das soll Widerstand sein?
H: Die Leute empfanden es so. Seitdem wurde der Pfarrer auf die Schippe genommen, wo man ihn sah.
L: Ach was, so einen Dreck will doch niemand lesen, oder?
H: Seriöse Verlage hätten den Roman nicht genommen.
L: Bravo.
H: Also hab ich’s selbst verlegt, getreu dem Motto des Tübinger Maskottchens Hölderlin: „Euch ist nicht zu helfen, wenn ihr selber euch nicht helft.“
L: Und dieser verfluchte Spruch steht noch immer in der Hölderlin-Ausgabe?
H: Müsst ihr halt streichen lassen.
L: Geht nicht, da sind die Bestechungsgelder zu hoch. Am besten ist es, Dutzende von Doktorarbeiten über die Schlafhaube am Neckar schreiben zu lassen. So was können wir staatlich fördern, jederzeit.
H: Und wer prüft die vielen Plagiate, die zum Geschäft gehören?
L: Es gibt genügend Neidhammel, die nehmen eine Suchmaschine, geistig leisten sie eh nix.
H: Jetzt wollen Sie sicher hören, dass mein Roman über den ländlichen Eulenspiegel ein Misserfolg wurde.
L: Sicher, das Ding ist ein Flop geworden.
H: Hätten Sie gern, aber die Leut haben mir das Buch kistenweise weggerissen.
L: Und nicht bezahlt, alles verschenkt?
H: So würden es die Autoindustrie oder das Bundespresseamt machen. Ich hab gleich bei der Premiere die komplette Erstauflage verkauft.
L: Herrgottsack, dass ich so was noch erleben muss. Dieser schräge Autor: ein Alptraum.
H: Ich musste ständig nachdrucken.
L: Dieses Modell kann ich von Staatswegen nicht empfehlen. Wir werden es nachher bei der Niederschrift des Verhörprotokolls streichen müssen.
H: Fälschen Sie immer die Protokolle?
L: Machen Sie sich keine Sorgen, so passiert das immer bei höheren Stellen, und ich bin schon Abteilungsleiter.
H: Als Unterkommissar?
L: Ja, der Titel ist die letzte Rache des Chefs, krieg ich nicht weg, deswegen schlaf ich seit der Beförderung auch schlechter.
H: Jetzt steh ich vor der 11. Auflage.
L (schreit): Au, das tut weh. Sonst noch eine Hiobsbotschaft?
H: Die Leut freuen sich und lachen, wenn Sie mich sehen. Wenn ich durch meinen Flecken fahr, mit dem Radl, muss ich so viele rechts und links grüßen, dass ich aufpassen muss, um nicht vom Radl zu fallen.
L: Oh würden Sie nur mal stürzen, Sie verfluchter Unterwanderer jeder Autorität.
H: Macht mir halt Freude.
L: Warum das? Versteh ich nicht.
H: Es gibt nix Schöneres, als einen Eingebildeten in seiner Wertschätzung zu untergraben. So ein Gesicht müssen Sie beobachten, wie es aus dem Himmel eingebildeter Beliebtheit abstürzt in die öffentliche Lächerlichkeit. Das ist auch das Geheimnis des politischen Lachens.
L: Was, auch das Lachen soll noch politisch sein?
H: Nix einfacheres. Wenn eine ins Grübeln gekommene Volksmenge den blödesten Politiker mit standing ovations niederfeiert, da sollten Sie mal sehen, wie die Birnen des Herrn und seines bewaffneten Begleitschutzes rot anlaufen. Ein expressionistisches Gemälde.
L: Ihnen ist auch nix heilig.
H: Richtig, Scheinheilige gibt es auf Kirchengemälden und im Fernsehen. Ein Auslaufmodell.
L: Kommen wir darauf zurück, dass Widerstand ein Blödsinn bedeutet, den heute nur Intellektuelle feiern, weil sie auf ihren Planstellen an der Uni oder in Behörden davon leben. So jetzt haben Sie nix mehr zu sagen.
H: Seit Jahrzehnten gibt es ununterbrochen Widerstand in einem oberitalienischen Tal. Da können auch Hunderte prügelnder Carabinieri nix ausrichten. Die Wurzeln sind zu tief.
L: Ich versteh nur Bahnhof, was meinen Sie?
H: Sie wissen natürlich nix, aber um den verfluchten Tiefbahnhof S21 in Stuttgart herum bilden sich Informationsströme und internationale Treffen, die nicht mehr zu unterdrücken sind.
L: Werden wir sehen, wenn wir das den Kollegen vom amerikanischen NSA sagen. Die lassen sich so was nicht vorwerfen.
H: Im kleinen, schmalen Susa-Tal in Piemonte, bei Turin, gibt es seit langer langer Zeit einen militanten Protest. Den Leuten geht der geplante Hochgeschwindigkeitszug von Lyon durchs Alpenmassiv nach Mailand auf die Eier. Sie kriegen Lärm ohne Ende. Der Zug zerstört ihr Tal und bringt ihnen keinen Vorteil. Die politisch nicht kontrollierbaren Carabinieri dürfen sich austoben am Protest. Vergeblich, der Widerstand steht immer wieder auf. Und das seit über 23 Jahren. Auch Berlusconi hat mit seiner Korrumpierung nix erreicht.
L (rauft sich die Haare): Ist das auch noch Widerstand? Oder ist das schon Kriminalität?
H: Sie allein werden’s wissen, Sie sind dafür zuständig.
L: Fürchterlich. Wir weisen die Medien an, nix darüber zu berichten. In Deutschland klappt es, in Italien haben wir zu kurze Arme, die Journalisten verlangen zu viel Bakschisch. Auch dort hört die freie Publizität auf, wenn auf der anderen Seite der Waage mehr Geld drauf liegt.
H: Weiter. Neuester Trend: Internationale Koordinierung über total unnütze Großprojekte. Kennen Sie einige?
L: Au ja, unser Cola-Automat in der Kantine, klemmt ständig, wir sind verzweifelt. Das sind echte Probleme der demokratischen Kontrolle. Nicht Ihre Scheinprobleme wie die Eisenbahn in Italien, mit der sie eh nie fahren werden.
H: Schon was gehört von der Elbphilharmonie in Hamburg?
L: Hören Sie bloß auf, das ist Gräuelpropaganda der Kommunisten oder wegen mir auch der Vegetarier. Alle sind bloß neidisch.
H: Und der Flughafen in Berlin?
L (schreit): Sind Sie Sadist? Immer die alten Wunden aufreißen, wo unsere Parlamente schnarchen.
H: Bei jeder ruinierten Großfirma bekommen die unfähigen Manager 10 oder mehr Millionen Euro Abfindung.
L: Hetzpropaganda. Früher hätt ich gewusst, wer das verbreitet. Die Quelle war garantiert in der DDR, jetzt tappen wir im Dunkeln.
H: Sie sehen, es gibt genügend Gründe zum Wühlen von unten gegen oben.
L: Leider leider, hoffentlich erfahren nicht viele davon.
H: Auch wenn das bloß die Leser vom „Wespennest“ lesen, wird der deutsche Sprachraum erzittern.
L: Vor Lachen?
H: Vielleicht auch, wär nicht das Schlechteste. Denn lachende Leute marschieren schlecht oder gar nicht. Suchen lieber Liegestuhl und Cappuccino, als die Marschroute nach Afghanistan. Sie verteidigen ihr Land nicht am Hindukusch, sondern im Bett. Lacher untergraben den Untertanengehorsam. Und bringen die Leute einander näher.
L: Glauben Sie. Das ist doch nur Zweckpropaganda.
H: Sie kommen offenbar aus Ihrem Büro nicht hinaus. Was Wirklichkeit ist, erfahren Sie aus Protokollen, falls die überhaupt stimmen.
L: Sie wissen wohl besser als die Kripo, wie man Wirklichkeit erfährt und prüft, ob sie standhält?
H: Ich mach’s, wie es gewöhnlich Forscher tun: Beobachten, Teilnehmen, mit den Leuten reden, mitgehen, dabei sein, vor allem mitlachen.
L: Sie können mir gestohlen bleiben, Sie mit Ihrem blöden Lachen. Aber schon wieder kommen wir vom Widerstands-Thema ab.
H: Vor vier Jahren hab ich mit einem Freund, auch einem Atheisten, den geistig arg hingefallenen Papst Ratzinger besucht. War das eine Gaudi. Der alte Herr hat uns tatsächlich empfangen, weil wir ihm einen gemütlichen Abend ohne die üblichen Frömmeleien versprachen. Nach so was sehnte er sich. Wir wollten wissen, wie ihn die bösen Studenten in Tübingen so schön geärgert haben, dass er auf die reaktionäre Linie der Kirche umkippte.
L: Ihr habt den Heiligen Vater besucht? Lügenbolde! Ausgekochte! Wache, die beiden Kerle festnehmen!
H: Wir haben heimlich ein Tonband mitlaufen lassen und veröffentlicht: „Volksbuch der verspotteten Päpste“. Es gab selbst im Mittelalter Scherzliteratur auf Kosten der Kirche. Ist aber in guten Buchhandlungen nicht zu bekommen, selbst bei Bestellung nicht.
L: Und wann kommt endlich der Lacher?
H: Ein Moskauer Geschichtsforscher, Paradiesvogel wie ich, hat mir eine Besprechung geschrieben. Er hat darin spannend erzählt, wie er mein „Volksbuch“ in Moskau in der Metro las. Öfters musste er laut lachen, bis die Leute um ihn herum fragten, was da so lustig sei, sie wollten auch mitlachen. Er hat laut übersetzt, wie wir den Papst als Feigling, Autoritätsknochen, Rechtsaußen und Abergläubigen entlarvt haben. Am Ende hat der halbe Wagen so mitgelacht, dass viele das Aussteigen an ihrer Station vergessen haben.
L: Und das finden Sie witzig?
H: Die Zuhörer wollten wissen, warum es solchen Spott nicht auch über den Chef der korrupten orthodoxen Kirche gäbe? Als einer in der Metro so ein Büchlein wünschte, hat die Menge gewiehert.
L: Ach was, Sie können einem die Ohren wegschwätzen. Überall Widerstand? Dass ich nicht lache. Widerstand seh ich nur, wenn meine Sekretärin keine unbezahlten Überstunden machen will oder meine Kinder mehr Taschengeld verlangen oder mein Auto schlecht repariert ist, das Benzin zu teuer wird und das Bier zu schlecht. Alles ist Widerstand gegen den Staat, die Kripo und mich. Zum Kotzen.
H: Sie sehen, überall klemmt’s.
L: Ja aber ihr könnt daran nix drehen.
H: Mal sehen. Es gibt Widerstand, der Sie zur Weißglut bringen könnte und mich in den Knast, wenn Sie mich dabei erwischen.
L (neugierig): Ich wittere Morgenluft.
H: In der guten alten Tschechoslowakei, genauer in Prag …….….
L: Oh an der Moldau, schöne alte Stadt, mit den drei superbilligen B für Touristen.
H: B? wie Busen?
L: Genau, in diese Richtung. Die Prager haben nach der Öffnung der Mauern beobachtet, dass die Westtouristen vor allem wegen drei B-s kommen: Bier, Benzin, Bordell. Alles billig, die Mädels noch nicht so abgezockt, Hausfrauenqualität, allererste Sahne.
H: Ich seh, Sie wissen, was Männerherzen begehren. In der goldenen Stadt herrschte einst ein bitterböser Diktator.
L: Sicher ein Zähne fletschender Kommunist, von Moskau gelenkt.
H: Der Gestapochef von Hitlers Gnaden.
L: Ein Jud?
H: Ein mustergültiger, rassereiner Supergermane, riesengroß, blond, blauäugig, toller Pilot, Superschütze, bester Sportler, aber peinliche Hakennase und mongolische Schlitzaugen.
L: Wie hieß der Typ? Müsst ich in der Polizeigeschichte gelernt haben. Wann sorgte der dort für Ruhe und Ordnung?
H: Er terrorisierte die Prager ab 1941.
L: Au weh, das ist eine Zeit, die man bei uns in der Polizeifachhochschule ausgeklammert hat, sei unwichtig, die Russen seien schlimmer gewesen als die Nazis.
H: Der kam, von Hitler geschickt, abends auf dem Flughafen an und hatte als deutscher Gestapochef eine Liste von 400 tschechischen Widerstandskämpfern dabei, die wären sofort zu erschießen.
L (zufrieden): Er wird schon gewusst haben, warum. Recht so. Wer von Amts wegen befiehlt, hat automatisch recht. Spannen Sie mich nicht auf die Folter: Wie hieß dieser Rechtswahrer im verseuchten slawischen Osten?
H: Reinhard Heydrich. Geboren in Halle, der einzige echte Germane im Nazipack.
L: Vorsicht. Wenn das ein Rechtsanwalt in Leipzig hört, kriegen Sie eine Beleidigungsklage, zumindest eine Abmahnung über 1.200 Euro.
H: Einen toten Verbrecher beleidigen?
L: Sie wissen nicht, was unbeschäftigte Winkeladvokaten alles erfinden können. Die haben die deutsche Rechtsgeschichte um einen neuen Tatbestand bereichert, wo sie Millionen verdienen können: das POSTMORTALE PERSÖNLICHKEITSRECHT.
H: Und das klappt?
L: Ich warne Sie, das kann teuer werden, besonders in Leipzig. Dort hat’s Spezialisten.
H: Als alle Tschechen verstanden, dass Hitler ihnen einen Massenmörder geschickt hatte, liefen die Güterzüge immer schlechter.
L: Machen Sie keine faulen Witze, Sie staatsgefährdender Scherzbold, Sie! Was soll es da für einen Zusammenhang geben?
H: Den Zusammenhang schuf der tschechische Widerstand.
L (brüllt): Können Sie nicht aufhören mit diesem widerlichen Thema? Ich kann es nicht mehr hören. Passen Sie auf, bald schick ich Ihnen einen Wiener Intellektuellen vorbei, der redet Ihnen nicht nur die Ohren, sondern auch die Augen und am Schluss noch den Arsch weg. Das können die, tadellos. Lernen sie im Café.
H: Immer her, ich bin ein Liebhaber schräger Erlebnisse. Sie wissen, ich halte viel vom Surrealismus. Mit dem begreifen wir mehr als mit dem Rabattsystem eines Möbelhauses. Also der tschechische Widerstand hat sich nachts in den Güterbahnhöfen und beim Halt der Güterzüge auf freier Strecke an Waggons zu schaffen gemacht. Wie zur Pflege.
L: Was wollen denn die Tschechen da tun? Sind doch unfähig, wir waren damals das Herr….., das herrschende Volk in Europa.
H: Diese Tschechen konzentrierten sich auf die Schmierbüchsen und verbesserten die Schmierung durch Glassplitter und Sand. Mehr nicht, war gleich erledigt.
L: Ich sag’s ja, die verdammten Slawen sind ein feiges Volk. Keine ehrliche Ritterlichkeit wie bei uns Germanen. Kämpfen versteckt, nachts, auf freier Strecke, wo kein Germane wachen kann, weil er im Bett auf seinem Schatz liegt oder vor sich hinschnarcht.
H: Mit diesem Geschwätz kommen Sie 50 Jahre zu spät.
L: Egal, immerhin ich komm.
H: Nach 10 km war das Radlager ruiniert. Wenn unter 40 Waggons fünf blockiert sind, stimmt die Geschwindigkeit nicht mehr und die Achsen werden immer heißer. Der Lokführer hält sofort an, auf offener Strecke. Heilloses Durcheinander.
L: Das sag ich ja: Widerstand schafft nur Chaos, Anarchie, totalen Zusammenbruch. Und so was wollen Sie?
H: Als Geschichtsausgräber will ich gar nicht so viel, ich will nur entdecken, vor allem die unterdrückten Befreiungsschläge nach oben. Und ich will den Lesefähigen den Erfahrungsschatz früherer Kämpfe weitergeben.
L: Glauben Sie nicht, dass Sie krank sind? Wo alle Intellektuellen schöne Dinge machen, wie Gedichte für den Muttertag, Essays für das Feuilleton, Kreuzworträtsel für den Seniorennachmittag. Sie aber reden von Schmierbüchsen. Wissen Sie, was Sie sind? Ein Schmierfink, ein staatsschädlicher. Man müsste Sie entsorgen wie Müll.
H: Haben Sie sonst noch Fragen nach dem Widerstand?
L: Nein nein, es ist genug. Ich diktiere jetzt eine Zusammenfassung des Verhörs, wie es im Amt üblich ist.
(Redet eine halbe Stunde mit dem Mikrofon, so gut er sich entsinnen kann.)
L: So, hier ein Formular, Sie müssen hier rechts unten unterschrieben.
H: Ja was denn?
L: Keine Faxen, das hat bis jetzt jeder unterschrieben, es ist Ihre Pflicht.
H: Wissen Sie überhaupt, was da vorgedruckt ist?
L: Brauch ich nicht zu wissen, ist geprüft, absolut in Ordnung, das verwenden wir seit Jahren, hat noch niemand Einwände gehabt.
H: Aber ich will es genau lesen:
L: Ist unnötig. Wir empfinden es als Misstrauen gegen unser Amt. Wissen Sie, was darauf folgen kann? Untersuchung all Ihrer Tätigkeiten die letzten 10 Jahre, Überprüfung Ihrer Steuererklärungen. Und morgen steht in BILD: Linker Widerstandsforscher bei Steuerbetrug erwischt. Sie können sicher sein, BILD schreibt nichts Genaues und schon gar nichts Wahres. Die schütten ein Fass Jauche über Ihnen aus. Basta. Und alle glauben es. Ach, mein Volk ist in diesem Punkt herrlich. Alle leben im TAL DER AHNUNGSLOSEN.
H: Halt, da steht, ich soll anerkennen, dass mir ein Ausdruck des Verhörprotokolls vorliege und dass ich die Wahrheit des Protokolls anerkenne.
L: Eben, das sag ich doch, das unterschreiben alle, ist völlig unbedenklich, hat sich bewährt.
H: Seh ich schlecht, aber wo soll hier auf dem Tisch das ausgedruckte Protokoll liegen?
L: Typisches Missverständnis, das dürfen Sie nicht ernst nehmen. Damit ist mein Diktat gemeint.
H: Warum steht dann hier „Ausdruck des Verhörs“? Aber hier liegt absolut nix.
L: So machen wir das immer, unterschreiben Sie endlich, ich kann nicht ewig warten.
H: Geben Sie mir einen Kuli. Schauen Sie her, damit streich ich das ganze Lügenformular durch.
L (brüllt): Ja sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Verrückt? Wärter, den Kerl abholen!
H: Sie wollen hier eine URKUNDENFÄLSCHUNG begehen. Hier steht ein total falscher, idiotischer Sachverhalt. Und jetzt schreibe ich daneben: „Diesen Unsinn darf ich nicht unterschreiben, denn damit begeht der Herr Unterkommissar Lepusis Urkundenfälschung, die ich ihm ersparen will. Vor mir liegt kein ausgedrucktes Protokoll.“
L: Jetzt mal halblang. Sie haben doch genau gehört, was ich diktiert hab. Und Sie haben keinen Protest gegen meinen Wortlaut eingelegt. Also ist mein Protokoll richtig.
H: Irrtum. Ich weiß ja nicht, was Sie nachher wirklich ins Protokoll setzen, wenn ich weg bin. Ich seh nicht Ihren endgültigen Wortlaut.
L: Misstrauen Sie mir? Unterstellen Sie mir, dass ich was anderes schreiben könnte, womöglich zu Ihren Ungunsten?
H: Genau, ich misstraue Ihnen, erst recht einem Amt, das mir eine Urkundenfälschung zumutet.
L (schlägt auf den Tisch): Sie sind der fieseste Typ, der mir je begegnet ist. So was hab ich in 30 Jahren nicht erlebt. Wenn Zeitungsreporter kommen, werd ich sagen: Der widerständige Typ da, der H., hat auf seine Art „Geschichte geschrieben“. Jetzt ist es aus, ich bin erschöpft, erlösen Sie mich.
H: Ich klingel Ihrem Pfleger. Sie haben sich im Interesse des Staates sehr gut geschlagen. Hallo Pfleger, binden Sie diesen Patienten los und bringen Sie ihn wieder auf KP 33, die Abteilung für unheilbare Polizisten, bestochene Politiker, korrupte Behörden, irreführende Regimejournalisten und anderes Gewürm.
L (bittend): Sonst können Sie nichts für mich tun?
H: Doch, Sie haben mir so gut gefallen, dass ich Sie für einen Literaturpreis vorschlage, den oberösterreichischen KALCHGRUBER-Preis. Kennen Sie den uralten illegalen Bauernadvokaten vom Mühlviertel? Um 1848, knorrige Persönlichkeit, 28 Jahre im Untergrund, von Polizei, Militär und Spitzeln gejagt, nie erwischt. (lacht herzerfrischend)
L: Aber wie, erzählen Sie mir. Ich hab Feuer gefangen für Ihre stories aus dem Jenseits, jenseits meines amtlichen Horizonts.
H: Pst leise! Ich seh, der Redakteur des „Wespennest“ ist eingeschlafen. Nicht wecken.
(Anmerkung am Schluss drucken)
Der Unterkommissar Lepusis hat italienische Wurzeln. Latein-Lexika sagen: lepus = Hase. Der bizarre Stil des Verhörs erinnert den Autor an sein geheimes Vorbild: Adolf Molnar: Des deutschen Volkes Wunderborn (1983). Der vielleicht beste surrealistische Roman deutscher Zunge und viel besser als manches Abstrakte vom Oberlehrer André Breton. So kann außer einem Wiener höchstens noch ein Schwabe schreiben.
(Untertitelung für das Bild: Polizeistreife auf der Suche nach dem Kalchgruber)
Die Polizei suchte im Mühlviertel nachts den rebellischen Bauernadvokaten Kalchgruber (um 1840). Immer vergeblich, weil die Leute auf dem Land Streifen und Spitzel „verschickten“, mit falschen Angaben, wohin er geflüchtet sei.
die Alte Schmiede Wien, literarisches Quartier
jenseits des Mainstreams
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WIENER KRIPOVERHÖR
von Hellmut G. Haasis,
gelesen am 16. Juni 2014
in der ALTEN SCHMIEDE WIEN, Schönlaterngasse 7A.
Überlegungen des Autors über seine Erzählmethode
Danach jetzt Juli 2014 Überlegungen, wie ich dieses etwas verquere Stück über meine geistige Lebensgeschichte komponierte, wie ich unabsichtlich durch mich selbst voran- und abgetrieben wurde und wie doch noch was rauskam, was so nicht verlangt war – und warum es dann die Zeitschrift mehr begeisterte als tief schürfende Beiträge.
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Im Herbst 2013 rief mich eine mir schleierhafte Zeitschrift an: WESPENNEST.
Woher? - Aus Wien. - So so. Nie gehört, wieder ein Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben. Die Schuldfrage eines Provinziellen, der immer hinterher hinkt, falls er überhaupt noch hinkt. Ein Schwabe, der offenbar nicht weit herumgekommen ist.
Der Redakteur WALTER FAMLER wollte wissen, ob ich einen Artikel schreiben würde: BRAUCHEN WIR WIDERSTAND? oder so ähnlich.
Ein heller Kopf. Fragt nach einer Selbstverständlichkeit. Jedenfalls für mich die beste Gefahr, in einem Meer von Plattheiten, Selbstverständlichkeiten, Entbehrlichkeiten zu versinken.
Das möchte ich den Leserinnen, den geneigten, nicht antun. In mir stieg etwas Abneigung auf. Nachdem ich seit fast 50 Jahren über Widerständiges schreibe, muss da diese Frage nicht unvermeidlich zu Plattheiten führen?
Welchen Hintergrund die Zeitschrift habe?
Famler war schon etwas erschöpft und kündigte an, er werde mich die nächsten Tage abends ausführlich anrufen. Ob ich grundsätzliches Interesse hätte? - Na ja, das schon. Ich wird ja viel zu selten zu so was gefragt. Liegt total außerhalb des Mainstreams, in Zeiten der Bologna-Umkrepelung von Ausbildung zur schnellen Schmalkost.
Er ruft Wochen später an. Mich überfällt ein heroisches Überfahrenwerden durch noch lebende Nachfahren der FRANKFURTER SCHULE. Diese Schule war mir immer einige Nummern zu groß. Zu hoch. Zu weit weg. Roch etwas esoterisch. Eingefleischte Jüngerschule von komplizierten Rechthabern. In diese Zunft muss man reingeboren werden und sich ständig bemühen, mithalten zu können. Von quellengesättigter Materialforschung aus der Geschichte konnte ich nichts spüren. Und für einen Dialekt sprechenden Schwaben liegt diese Schule sowieso weit weg.
Adorno hatte ich einigermaßen gelesen, vor allem die NEGATIVE DIALEKTIK. An diesem Tiefgründler hatte ich mich bei meiner später gescheiterten ersten Dissertation vage orientiert. Natürlich ohne eine auch nur vage Anleitung zuzugeben, das wäre Selbstmord gewesen. Nun fiel mit rettend wenigstens Alfred Sohn-Rethel grad noch ein. Den hatte ich schon entdeckt, als er in dieser Schule noch nichts galt. Gefunden in einer absichtslos weg hingeworfenen Notiz in Adornos „Negativer Dialektik“. Man wird diese unverständliche, wenig respektvolle, fast magisch verunklärte Stelle in dem dicken Buch noch finden. Ohne Register freilich mühevoll. Meine Anfrage an den Meister, wen und was er damit meinte, beantwortete er – mit der Übermittlung von Sohn-Rethels Adresse in England. Immerhin.
1973/74 erzählte ich den Blochs in Tübingen vom Briefwechsel mit Sohn-Rethel. Der Alte hatte keine positive Erinnerung an den schrägen Vogel, der immer nur die Warenanalyse von Karl Marx nach Kapital I nachgezeichnet habe, Carola noch weniger. Beide hielten ihn für ein kleines Licht, für sie schon lange erloschen. Sie freuten sich mäßig darauf, ihn von mir wieder vorgestellt zu bekommen. Das änderte sich etwas, als ich Sohn-Rethel tatsächlich zu den Blochs führte. Carolas erste Frage, ob er eine Jüdin geheiratet habe? – Ja. – Das sei schon merkwürdig, dass Juden immer wieder Jüdinnen heirateten oder meistens. – Ein bescheidene Annäherung. Es wurde besser, als sie sich über sommerliche Studienaufenthalte in Positano/Italien unterhielten, Sohn-Rethel von seiner wissenschaftlichen Arbeit im Nazireich und dann in England erzählte.
Nun sollte ich (2014) für die Wiener Zeitschrift WESPENNEST etwas schreiben über meine Forschungsarbeit im Horizont dieser großen Schule? Meine Abneigung verschob mich in den nächsten Wochen zu einem LITERARISCHEN GAUNERSTREICH. Ich wollte mich selbst in ein Kripoverhör hinein manövrieren, ein übel meinender Kriminalist sollte mich in die Ecke drängen. Verdient hätte ich diese Zwangslage schon, schließlich hätte ich es in meinem Leben zu keiner staatstragenden Publikation gebracht. Das dürfe nicht ungerügt bleiben, schon gar nicht im eigenen Werk. So ein impertinenter Stänkerer müsse gequält werden, am besten durch sich selbst. Wer kennt sich denn besser aus in seinem Werk als er selbst?
Mit einer absurden Lokalität bei der Kripo und der schlechten Absicht, mir selbst möglichst oft das Bein zu stellen, war die Ausgangssituation gefunden.
Dann ging es mit dem Schreiben los, weit schneller, als die Wiener Redaktion es erwartet hatte.
Ohne viel verhindern zu können, erwischte es mich ähnlich wie in Rom, im Privatbesuch 2010 beim Papst Benedikt XVI. Nach dem dritten Bier hatten wir auf Du gemacht, Joseph Ratzinger bot es uns an, weil wir ihm so sympathisch und einmalig ehrlich vorkamen: religionslose Freidenker. Ganz anders als die Mentalität im Vatikan. Ja, solche Kerle waren wir, und nur wir konnten so sein, wie Ratzinger selbst erlebte.
Etwas Ähnliches strebte ich jetzt beim LITERARISCHEN KRIPOVERHÖR an.
Nun will ich durch methodische Überlegungen herausbekommen, wie es mich dahin getrieben hat. Ob das, was herauskam, etwas taugt, entzieht sich meinem Einblick. Ich bin noch zu nah drauf.
Wie sollte der Kriminalist heißen? Wenn er so viel über mich wusste, wenn er zu meinem Geheimsten, zu meinem Innersten Zugang hatte, musste bereits die Namenswahl die Weichenstellung offenbaren.
Schon riss der Erinnerungsstrom mich mit sich fort. Ab jetzt will ich wieder in diesem Bewusstseins-Strom mitmachen, erinnernd. Erstmals hatte ich mir zwölfjährig ein literarisches Pseudonym zugelegt. Noch ganz unschuldig. Nach einem Unfall beim Fußballspielen in der Schule lag ich im Krankenhaus. Die Klasse schrieb mir durch unsern Lateinlehrer Hermann Steinthal (gest. 2014 in Tübingen, später angesehener Pädagoge, Rektor am Uhland-Gymnasium in Tübingen) einen lateinischen Brief. Mein literarischer Ehrgeiz war geweckt, ich antwortete und wählte wie die Humanisten der Reformationszeit die Latinisierung meines Namens: CLARUS ANIMUS LEPUSIS. Von Lepus = Hase.
Der Kriminaler sollte im Verhör diesen Namen selbst aufgreifen, den ich übrigens schon 2010 in Rom beim Papst aufgefrischt hatte. Diesmal allerdings die Vornamen italianisiert, eine Modernisierung.
Nun will ich rekonstruieren meine Grundsätze. Wie? Dem Text Hinterherdenken. Hoffentlich gelingt es, mich hineindenken in das innerlich nach zu empfindende Verhör bei der Literatur-Kripo. Also vom fertigen Text zurück in die Lage bei einer schlecht gelaunten Kripo.
Fest standen der Ausgangspunkt und einige Absichten, wie ich mich durchs Verhör schleppen wollte:
1. die Leserinnen nicht langweilen; sobald denen klar wird, wie es weitergeht, ist das Verhör für die Katz.
2. Dem Geschichtsausgräber die Situation erschweren, jede Erleichterung führt zur Langweile, Folge: siehe oben.
3. Der Kriminalist gewinnt seine Argumente gegen mich aus meiner eigenen geheimen inneren literarischen wie politischen Entwicklung, nicht aus Werkzitaten oder gar theoretischen Überlegungen.
4. Einer sucht dem andern möglichst raffiniert das Bein zu stellen.
5. Verarbeitung meiner Erfahrung mit der Kripo Reutlingen, Abteilung Staatsschutz. Meine Freude bei der Beobachtung des Verfassungsschutzes sollten aus Platzgründen wegbleiben, wurden aber im Hintergrund mitempfunden, mit Schmunzeln. Dennoch muss das Gefühl der Unsicherheit bei so einem Verhör getroffen werden.
6. Auch der Kriminalist muss entscheidend angepackt werden, aber nicht bei literarischen Fragen, von denen er ja nichts verstehen kann und auch nie verstehen will, sondern bei seinem beruflichen Ehrgeiz. Er ist, obwohl jetzt Abteilungsleiter, immer noch Unterkommissar – Tut nichts, dass es so einen herab setzenden Titel sicherlich nicht gibt.
7. Gegen Ende Einbruch einer ganz anderen Welt, aber das ergab sich erst während des Schreibens, das war nicht vorgesehen. Hier hat mich das Vorwärts-Geschoben-Werden überrumpelt.
Ablauf nun im Einzelnen, was mir noch einfällt.
Entsprechend der bedrängten Atmosphäre bei der Kriminalpolizei herrschen von Anfang an kurze Sätze, fast ein hartes Staccato. Wenn die Darstellung dem Kriminaler zu lang wird, sucht er den Inhalt schlecht zu machen: sei langweilig, stimme nicht, sei überholt, sei schon immer erfolglos.
Ziel: erneut Spannung aufbauen, vor epischer Breite bewahren, die das Verhör auf das Niveau eines Aufsatzes herunter ziehen würde.
Nun ergibt sich hoffentlich der Ablauf, wie er sich im Autor oft ohne seinen Willen ergab.
Die gegnerischen Stichworte – am Anfang „Repression“, „Angsthasen“, „Hosen voll“, „Angst vor Uniformen“, Unterwürfigkeit (S. 62 - 63 1. Spalte oben) – münden gleich anfangs in einen generellen Angriff auf den Autor, eine Argumentationskette, wie sie populär ist bei den zahllosen NICHTLESERN, die eine erdrückende Mehrheit unserer Zeitgenossen ist.
Kultureller Analphabetismus ist ein Grundmerkmal unserer Gesellschaft und wird sich kaum ändern. Dieser Angriff soll abgefangen werden, indem H. zurückfragt: Der Kriminaler müsse ja die inkriminierten Bücher des Autors gelesen haben, wenn er sie für überholt halte. Die Antwort dreht die Rollen um, vertauscht Ankläger und Verteidiger. Der Kriminalist Lepusis ist der eigentliche Leser oder eben Nicht-Leser, nur er könne es wissen, dass es Widerstand nur in den Büchern des H. gebe.
Der Kriminaler bekommt einen Fuß gestellt, er wird in die Rolle des angeblichen Lesers gesteckt. Er sehe unweigerlich wie ein Leser aus, eine verdammenswerte Person, sobald er eine Lesebrille aufsetze, ausgerechnet die seiner Frau. Hier kippt das Verhör in eine Umkehrung der Personen um. Dem Kriminaler, einem Kultur- und Frauenfeind, wie es zu einem rechten Nichtleser gehört, gilt schon eine Lesebrille als verwerflich. Von ferne winkt Hitlers Angst vor der Brille.
Erstmals nimmt der Spott zu und trifft den in seiner Rolle umgedrehten Kriminaler bei der fehlenden Zielgenauigkeit im Pissoir. Nach einer langen Nacht der Begeisterung über das Gelesene (das ja seinem negativen Urteil zugrunde liegen müsste) trifft er gegen Morgen nicht mehr in die halbhohe Schüssel. Der unangenehme Rollentausch vollzieht sich mit einem Requisit: der Lesebrille.
Der Kriminaler stimmt seiner eigenen Heruntersetzung zu, Intellektuelle seien bloß Papiertiger. Wichtig, dass das negative Stichwort später wiederkehrt. Ein längeres Gespräch muss öfters Ideen von früher aufgreifen, damit es ein in sich geflochtener Teppich wird. Die negative Besetzung durch seine Frau, was den autoritär orientierten Kriminaler ärgern muss, kehrt wieder, wenn er abends von seiner Frau in die Kneipe geschickt wird und vorher ein frisches Taschenbuch zugesteckt bekommt. Seine Frau ist es, die die Hosen anhat. So ist die erste Angriffsspitze auf die ungelesenen Bücher in das Gegenteil umgekippt. Eine erste Niederlage im Verhör.
Was könnte jetzt kommen? Der Kriminaler geht zum Angriff über. Der Autor, ein wenig angeschlagen, kann sich nur in Träume flüchten, in die alten Zeiten. Das steckt die Polizei selbst an, denn auch sie träumt gern von alten Zeiten, als alles noch schöner und sie selbst wichtiger war, als die Polizei noch mehr galt. Und doch wird der Kriminaler gleich wieder aufs Glatteis geführt und lässt sich dazu hinreißen, dem gescheiterten Autor zu raten, wie moderne Texte aussehen müssten.
Der Polizist als Literaturberater. Texte müssten sein wie im Netz, wovon der Autor offenbar überhaupt nichts zu verstehen scheint, dieser überholte Penner. „Nicht mehr als zwei Sätze, maximal fünf Worte pro Satz, viel Denglisch, zynische Sprüche und Beleidigungen, vor allem Werbung, aber ja keine widerspenstigen Gedanken.“ (S. 63 1.Spalte)
Ist dieser Rat ernst gemeint? Will der Kriminaler den Autor erfolgreicher machen? Die Ablenkung deutet den Verlust von Inhalt und politischem Gehalt an. Wie wird sich der Autor verteidigen?
Sofort Gegenattacke auf den Kriminaler: „Dann werdet ihr ja alle überflüssig: Kripo, Staatsschutz, Geheimdienst. Wer nix im Kopf hat, kann auch nix geheim machen, tut nie was gegen den Strich.“ (S. 63 1. Spalte)
Eine Existenzbedrohung der Polizei, schlimmer als der bisherige ideologische Schlagabtausch. Die Kripo könnte ihre Arbeitsplätze verlieren, das wäre schlimmer als jede Menge von Widerstandsliteratur.
Noch einmal dreht sich die Richtung. Nun erscheint nicht der Jobverlust als das Schlimmste, sondern die mögliche Verwirrung der Rollen. „Vorsicht. Ihr Untertanen werdet uns zwar immer ähnlicher, aber der Schein kann trügen.“ (S. 63 1. Spalte)
Der Autor spürt „Aufwind“. Der Kriminalist fühlt sich dagegen erneut in die Verteidigung gedrängt. „Leute, die zu arg beschissen werden, von Banken, Politikern und Regierungen, vom Arbeitsamt oder Finanzamt, von Fernsehen und Zeitungen, von Rechtsverdrehern, solche Leute fangen irgendwann an zu grübeln.“ (S. 63 1. Spalte)
Die Linie des Verhörs richtet sich nun gegen Staatsschutz und Kripo. Auf einmal könnten Bücher, nach Ansicht des Kriminalers die falschen, zu unerwünschten Wirkungen führen. Der Kriminaler ist abgedriftet, just er formuliert den heimlichen Wunsch des Autors, den er für irreal halten müsste. „Dann ziehen die aus uralten, lang verstaubten Abwehrkämpfen gegen die Obrigkeit aktuelle Schlüsse, nur falsche.“ (S. 63 1. Spalte)
Immer wieder falsch. Die Kripo bekäme Alpträume. Der Autor macht sich in der heimlichen Kumpanei des Verhörs Sorgen, wie er dem Geängstigten helfen könne. Da durchbricht der Kriminaler das mühsame Taktieren und poltert den Verhörten an, der bis jetzt nicht mal in die Lage eines Angeklagten abgedrängt werden konnte. Er formuliert ein staatliches Programm für die Unterwerfung: „Abhauen, Schnauze halten, nur noch Fußball gucken, nix Schwieriges lesen, immer Regierung und Parteien glauben, in die Kirche gehen und niederknien, taubstumm Steuer zahlen und Gott danken, dass ihr überhaupt noch lebt.“ (S. 63 1. Spalte)
Dieser neue Schwenk beleuchtet die Erkenntnis, wie rasch die Gesprächslinie umschmeißt. Von weither ein Einwurf, der ein neues Licht bringt, kaum Klärung, eher zur Blendung führt, denn die Organisation ist für sich selbst schon genügend zweifelhaft. „Zahlt die Heilsarmee Ihnen was für so eine Predigt?“ Unerschrocken den Stier bei den Hörnern nehmen, ohne verzwickte Gedankenführung. „WIR SIND die Heilsarmee.“ (S. 63 1. Spalte) Der Kriminaler geht auf die Leimrute uind entwickelt die beruhigende Rolle der Polizei.
Der Autor bleibt auf dem neuen Feld. „Glauben Sie, dass Beten gegen Widerstand hilft?“ (S. 63 1. Spalte) Damit wendet sich der Bogen zurück zum Anfang: Wozu taugt Erforschung von Widerstand? Eine Existenzfrage für den Autor, der aufpassen muss, dass er am Ende nicht bedröppelt die Polizeidirektion verlassen wird.
Was wie eine besorgte Frage klingen könnte, im Zusammenhang aber viel eher nach einer verspottenden Umkehrung der Rollen aussieht, führt beim Kriminalisten überraschend dazu, dass er den heimlichen Wunsch des Autors erfüllt, ein Schuss Antiklerikalismus mischt das Klima auf. „Schauen Sie die vielen Katholiken an, wie da der Vatikan sedierend wirkt: ein heiliger Apparat als Beruhigungsmittel.“ (S. 63 1. Spalte)
Es könnte sich positiv für das Image der Kripo auswirken, aber das antiklerikale Stichwort „Solidarität“ führt bei der Polizei nur zum Ekel, durchaus nachempfindbar: „Das Wort Solidarität möchte ich nie mehr hören. Ist antistaatliche Pornographie, Schweinigelei, fass ich nicht mal mit Gummihandschuhen an.“ (S. 63, 2. Spalte)
Weiter dreht sich die Verhörspirale, Solidarität ist gar anarchistisch. Die Kripo hat die Kurve gekriegt, ihren Auftrag glücklich wieder gefunden, die Rollenverkehrung scheint widerrufen. Eine späte Entschuldigung für den Ausflug ins Antiklerikale scheint nachzukommen. Christliche Werke vertragen sich nie mit anarchistischen, was einsichtig ist. „Solidarität mit Schwächeren“ ?
In karikierter Form und damit unter der schönsten Form des Spottes, nämlich der unfreiwilligen Selbstverspottung, wirft sich das Christentum in die Niederungen des Verhörs: „Jeder greift dem andern unter die Arme, statt in den Geldbeutel, wie es unseren christlichen Werten entspräche.“ (S. 63 2. Spalte)
Den wenigen Lesern meines Werkes wird vielleicht eines Tages die Parallele im Papstbesuch von 2010 einfallen: Die beiden Freidenker führen den Papst zum verfluchten Denkmal für den verbrannten Giordano Bruno auf dem Campo dei Fiori. Der Papst riecht den Braten, wo nach dem dritten Bier der mühseliger werdende Gang enden wird. Er will den verbrannten Ketzer und Philosophen nicht sehen, nein, er will nicht. Da fällt dieser glitschige Satz, voll spottlustiger Solidarität. (Hellmut G. Haasis/Heiner Jestrabek (Hg.): Volksbuch der verspotteten Päpste. Ein befreiendes Lachbuch. (Blauwolkengasse Nr. 7) Paris usw. 2010, S.50ff „Campo dei Fiori“, das gemeinte Zitat auf S. 51 „unter den Arm greifen“)
Die Kehre zur Anarchie, bei der Kripo zum Ekel reizt den Autor zum provozierenden Amen, was man im Polizeigebäude gar nicht hören will. Gleich setzt es Aggression frei, der Autor ist wohl Atheist? Die Bejahung lenkt den Kriminaler von seiner staatlichen Aufgabe ab, eines der vielen Male in diesem verwirrten Verhör. „Die Leute brauchen einen Glauben“, (S. 63 2. Spalte) wie Politiker die Phrase gerne verbreiten, um Kosten zu sparen, für Kontrolle und Repression. Hier spricht außer der Polizei auch der Finanzminister.
Die Kripo sieht als die größte Gefahr beim Glaubensverlust an, dass man dann „keine Grenzen mehr kennt“. Der Autor antwortet mit der nicht gemeinten herrschenden Schicht unserer Gesellschaft, wobei jeder Mensch weiß, dass die selber keine Grenzen einzuhalten brauchen, wenigstens solange sie nicht zu fahrlässig und gewalttätig auffallen. Die Aktualität der seit über sieben Jahren sich dahinschleppenden Finanz- und Bankenkrise schlägt erstmals ein, mit der gemeinen Frage: „Wie unsere Banker, Börsenspekulanten und sonstigen Plünderer des Volksvermögens?“ (S. 63 2. Spalte)
Der Kriminalist ist nicht auf den Kopf gefallen, er schlägt sofort zurück, was ein wesentliches Stilmittel dieses Verhörs voller Verwirrung ausmacht. Der Autor sei doch bloß unsachlich, deutliches Zeichen seiner Schwäche. Der Kriminalist spürt Aufwind und predigt vom verfassungsgemäßen Auftrag zur Finanzspekulation. Aus der Krise sich selbst herauszuziehen, das sei eine „Wunderheilung“. So, jetzt hat er dem neidischen Autor aufs Haupt gehauen.
Der Kriminalist weicht nicht zurück, führt den Bezug auf die Finanzkrise bloß auf den Neid des schlecht verdienenden Autors zurück. Ein populäres Argument gegen anspruchsvollere Literatur, wohl schon seit Jahrhunderten, also eine altehrwürdige Abwehr, die zu jeder Zeit ankommt, wenigstens bei widerständiger Literatur.
Dieser Schwenk zum Neid wird vom Autor sofort pariert, es geht Schlag auf Schlag weiter, es gibt kein Verbleiben bei einem Argument. Ständig reißt der Verhörfaden ab und wird von dem, der eigentlich antworten sollte, gleich auf ein anderes Feld abgelenkt, wo der sich eben Vorteile verspricht. Der Autor schieb die Neid-Linie selbst wieder ins Negative: „Warum ereifern Sie sich so?“ (S. 63 2.Spalte)
Allenthalben herrscht ja der gesellschaftliche Zwang, man müsse bei jeder Debatte ruhig, sachlich, zurückhaltend sein. Ideologisch aufgeblasen heißt es: „Unangestrengt“ hat man zu sein, wo auch immer. Merkwürdig, aber in diesem Zusammenhang gilt „Anstrengung“ als verwerflich, während in der lückenlosen Leistungsgesellschaft Anstrengung ja unerlässlich ist. Ein Widerspruch schleicht sich langsam ein, aber wohin geht er?
Der Kriminalist verliert erstmals die Sicherheit, lässt sich ärgern, wird laut, wie es ausdrücklich heißt, das Zitat entblößt die Verletzung seiner vorgetäuschten Ausgewogenheit. „Ich weiß, Sie wollen mich bloß ablenken, dass ich Ihren Schmierbüchern über Widerstand, Ungehorsam, Attentate, Volksbewegungen, Streiks nicht auf die Finger klopf.“ (S. 63 2.Spalte)
Der Autor triumphierend: „Hoho, viele neuralgische Punkte.“ Und setzt gleich nach, tiefer in der Wunde bohrend: „Blicken wir da nicht in eine angstvolle Polizistenseele?“ Und setzt nach, um seinen Triumph zu genießen und den anderen noch tiefer hinunter zu stoßen: „Ein Abgrund von epochaler Verunsicherung?“
Glänzend die sofortige Retourkutsche, die beabsichtigte Demütigung hat also nicht geklappt, wieder einmal. Dieses ständige Auf und Ab auf jeder Seite beschleunigt die Verhörführung, Sieg und Niederlage gehen hin und her. Kein Ausruhen auf einem Höhepunkt, der ja die Erwartung dämpfen würde. Denn wo ein endgültiger Triumph im Verhör sichtbar würde, wäre nichts Neues mehr zu erwarten.
Die Retourkutsche also: „Was haben Sie gegen uns zu bieten, Sie papierener Armleuchter?“ Also sofort Gegenangriff, zurückkehrend zum Anfang, wo bereits der bloße Papiercharakter des Autors vorgeworfen wurde.
Der Rückschlag dagegen ist auch nicht von schlechten Eltern: „Wohin wir schauen, kracht es heute in Europa, massenweise. Größere Volksbewegungen denn je.“ Wir sind also in der Gegenwart angekommen, vom literarischen Werk zur Dauerkrise, an der die Kripo gerne vorbei käme.
Die Kripo kann das nicht kümmern, die beste Verteidigung ist allemal Desinteresse, dem Autor die echte Frage ungeniert ins Gesicht zurückwerfen. Aber hilft gegen die Krise das bloße Wegsehen? Der Kriminalist ist klüger, er lenkt zu den Arabern ab. Was schon nicht ganz abzuweisen ist, soll wenigstens auf eine weiter weg liegende Gegend konzentriert werden, die die hiesigen Zeitgenossen wenig kümmert: die arabische Welt. Auch wenn es noch so kracht, dem Ruhebedürftigen ist es doch noch weit genug weg.
Der Autor setzt, damit fast naiv, einfältig werden, voller Ernst nach: Ob der Kriminalist nicht überall von „Streikenden in Frankreich, Griechenland, Spanien, selbst England“ höre?
Die Kripo versucht, sich überlegen zu geben. Und stützt sich geradezu zynisch auf das stille, unausgesprochene Abkommen zwischen Medien, Politik und Polizei: im Fernsehen alles nur für Sekunden zu zeigen. Neuer Schwung in die satte, unverschämte Selbstsicherheit, es gebe „einen Deal mit den Parteien, Journalistenverbänden und Gerichten“ – Unruhen seien nur kurz zu zeigen. Wer als Journalist da gegen den Stachel löckt, wird sofort entlassen. Im Ablauf dieses Verhörs klingt das zwar wenig wahrscheinlich, dass es so einen Deal wirklich gibt, aber die Verhörführung lebt davon, dass im ständigen Auf und Ab und bei den vielen politischen Skandalen und Korruptionsfällen und Machtmissbrauch selbst dieser Deal nicht ganz unglaubhaft erscheint.
Der Angriff wird mit dem Verweis auf die Occupy-Bewegung pariert. Ganz frische Erinnerung, was freilich die Verständlichkeit Jahrzehnte später beeinträchtigt. Die Kripo lässt die Fratze der puren Macht fallen: da helfen nur noch „Spezialtruppen“. Unterstützt wird diese neue Linie mit der Aufblähung eines Apparates von Psychiatern. Es wird an alles gedacht, da hat kein Widerstandsforscher mehr eine Chance.
Diese neue Linie gipfelt in einer schonungslosen Selbstkritik der „eingebetteten“ Schriftsteller. Wenn solche massenhaften Protestbewegungen sich nicht mehr „totschweigen“ lassen, hilft nur die Einschaltung der Fünften Kolonne, Anspielung an die Kollaborateure aller Länder im Krieg: „staatlich kontrollierte etablierte Intellektuelle, regimetreu. Die mit den schönsten Bucherfolgen kommen dran. Während viele Rentner mit dem Geld nicht mehr auskommen, schwärmen abends unsere Stars für Modetrends, auch im Buchsektor, von ihrem schon morgen verblassenden Ruhm auf den Märkten.“ (S. 64 1. Spalte)
Dieser Anfang einer Erzählanalyse mag genügen. Ähnlich ginge es weiter.
Mit Gerlinde in Wien auf der Suche nach der
gläsernen Wahrheit in der Literatur.