haasis:wortgeburten

UNDERGROUND 1
ESCHERNINGHKEN. Flugblatt (maschinenschriftlich) in einer rabiaten Sprache gegen die Nazis. Gefunden 1938 in Escherningken, das die Nazis Gutfließ nannten, in Ostpreußen, bei Königsberg. Der Ort gehört heute zu Russland und nennt sich Wissokoje.
(Berlin, Bundesarchiv, R 58 Bd. 446, Bl. 219)

Reichssicherheitshauptamt, Amt IV, Lageberichte der Staatspolizei(leit)stellen über die marxistische und kommunistische Bewegung.“ 1938-1939. – Hier Bericht der Staatspolizeistelle Königsberg, 25. August 1938.

„Ein in Schreibmaschinenchrift gehaltenes Flugblatt, das an einem Baum in der Nähe von Gutfließ (Escherningken) angeheftet war, hatte folgenden Inhalt:
„Komm Herr Hitler, sei unser Gast und segne, was du uns versprochen hast.
Gib uns nicht immer nur Kartoffel und Hering,
sondern was du ißt und Göring!
Ihr Nazischweine! Wie werdet ihr bloß von euren Führern betrogen.
In Berlin werden die pompösesten Bauten gebaut und nur für die Groschen der armen Arbeiter.
Die Löhne werden ihnen vorenthalten und zu fressen wird ihnen fast gar nichts gegeben.
Aber die Nazibonzen, sie platzen vor Festigkeit.
Für wessen Geld konnte die Xantippe Göring die fünfzig Kinderausstattungen kaufen? Doch nur durch die abgegaunerten Volksgroschen.
Dann reden die Nazibonzen von Kindererzeugung.
Wer soll aber die vielen Kinder bekommen? Doch nur wieder die arme Arbeiterfrau, die zu einer besseren deutschen Ferkelsau sich hergeben soll.
Die reichen Frauen und das bessere Gesindel, die vögeln entweder mit Gummiüberzieher oder, wenn die Natur sich ergießt, dann ziehen sie einfach das Glied heraus und denken wie die Engländer: Ich scheiß auf Deutschland.
Das Kanonenfutter werden die niedrigen Volksgenossen schon liefern.
Die Presse und die führenden Nazibonzen reden auch nur für Geld fürs Deutschtum.
Schaut euch doch mal herum. Wo beibt die verkündete deutsche Freiheit?
Doch nur alles Zwang und Muss.
Die feinsten betrügerischen Klicke wie Goebbels, Göring und wie sie alle heißen.
Sie haben sich nicht bloß die Taschen bis oben gefüllt, sondern sie haben sich sogar kistenweise schon das Geld aufgestapelt.
Wenn Hitler wirklich so ein gerechter Mann wäre, dann hätte er schon lange angeordnet, dass das Buch „Mein Kampf“ für eine Mark verkauft werden müsste.
So aber beutet er nur weiter seine Arbeitskameraden aus.
Wie sind wir doch jetzt bloß unbeliebt in der ganzen Welt geworden.
Nicht einmal die Hottentotten wollen mit den Deutschen was handeln.
Das Beste wäre, die dollsten Schreier von Berlin in den Schützengraben hin[einzu]stopfen.
Mit diesem Zeitpunkt wäre auch ihr Deutschtum erledigt.
Der Russe hat Recht, wenn er über Deutschland die Wahrheit spricht.
Nicht der Russe lügt, sondern die Deutschen mit ihren Regierungsmännern lügen.
Lügen das Blaue vom Himmel herunter.
Es wird den Regierungsmännern auch nicht mehr geglaubt.
Das Volk weiß, was es von den regierenden Idioten zu glauben hat.
Ein Krieg wird die ganzen Nazibonzen auch einmal von der Bildfläche verschwinden lassen.
Hoch lebe Russland und die demokratischen Länder!“

 

Der oft grobschlächtige, aber grundehrliche Inhalt ist weit entfernt von der Gedankenwelt der Kommunisten oder Sozialdemokraten. Ein einfacher Schreiber aus dem Volk und auf dem flachen Land, weit weg von den Metropolen.

Bei ihm sieht zuerst alles aus wie Kraut und Rüben. Doch dann dringt man langsam vor zu seinen eigenen Gedanken: ein rabiater Gegner, seine Kritik hat er selbst entwickelt, ohne Anlehnung an irgendeine Strömung.

Vielleicht trifft er besser die schmale Strömung rabiater Nazigegnerschaft als die Parteileute.

Nebenbei: Kondome waren offenbar den einfachen Leuten zu teuer und nicht leicht zu besorgen. Schon der coitus interruptus erschien dem Ostpreußen als ein Klassenproblem.

 

/underground/underground01.php | anares.org | comenius-antiquariat.ch Samuel Hess 2005