UNDERGROUND 13
HAMBURG. Parodistische Kanzelpredigt der Swing-Jugend in Hamburg. Thema: keine Lust zum Krieg gegen England, Januar 1943.
(Berlin, Bundesarchiv, R 58 Bd. 210, Bl. 35)
Reichssicherheitshauptamt, Amt IV, Meldungen wichtiger staatspolitischer Ereignisse, 1943, Nr. 1, 2. April 1943, Bl. 35, eingeordnet unter „Sonstiges“. – Wohl keine Schublade gefunden?
„Swing-Jugend.
Obwohl gegen die vorwiegend in Hamburg aufgetretene Swing-Jugend (vergl. Meldung wichtiger staatspolitischer Ereignisse vom 5. 2. 1941) scharfe Maßnahmen durchgeführt worden sind, hatte sich in Hamburg im Januar 1943 wiederum eine Gruppe von Jugendlichen zu einer neuen Clique zusammengeschlossen.
Der Hauptbeteiligte in dieser neuen Gruppe, der 16-jährige Schüler Jürgen Kayser, war zum Luftschutzdienst in der durch Bomben getroffenen Petri-Kirche herangezogen worden.
Auf seine Anregung hin fand in dieser Kirche am 20. 2. 1943 ein sogenannter Hausball statt, an dem 6 Jungen und 5 Mädchen teilnahmen, die sich in dem Kirchenschiff aufhielten und Zigaretten rauchten.
Der 18 Jahre alte englische Staatsangehörige Francis Joly bestieg auf Aufforderung die Kanzel, um eine „Predigt“ zu halten.
Nachdem er zunächst einen Pfarrer nachgeahmt und eine allgemeine Begrüßungsansprache gehalten hatte, ahmte er den Tonfall von Reichsminister Dr. Goebbels in dessen letzter Rede nach und stellt u. a. folgende Fragen:
„Erstens: Die Engländer sagen, wir hätten keine Lust mehr zum Kriege! Haben wir das?
Zweitens: Ich frage euch: Wollt ihr noch weiter gegen die Engländer kämpfen?“
Auf diese Fragen wurde von den unter der Kanzel versammelten Jugendlichen jedesmal einstimmig mit „nein“ geantwortet.
Anschließend bestieg der 16-jährige kaufm. Lehrling Claus-Uwe Jacobs, der wegen seines früheren Treibens bereits im Jahre 1942 in Haft und Fürsorgeerziehung gewesen war, die Kanzel und versuchte in ähnlicher Weise Dr. Goebbels nachzuahmen.“
War das nicht eine großartige Aktion? In Deutschland so ziemlich einmalig. Lag das nur am Terror der Gestapo?
Nein, sage ich, als erfahrener öffentlicher Parodist, Märchenclown Druiknui und Vater der jüngst adoptierten Prager Marionette Hurvínek. Es fehlt den Deutschen an Courage – fast immer, egal in welcher Situation – es fehlt die Freude am parodistischen Verspotten der Herrschenden – lieber kuschen, so kommt man weiter.
Es fehlt an Hirn und Geschmack und Einfällen und Übung: kurz an geistreicher Kreativität. Wird auch nicht so schnell kommen. Viele Fahnen bei der Fußball-WM sind noch lange nicht vergleichbar mit der mutigen Verarschung eines Terrorstaates.
Was von dem bisschen naturwüchsigem Erbe bei uns übrigbleibt - nach Erziehung zu Karriere und Geldmachen und andere Niederkonkurrenzieren - das darf in geschlossenen Räumen auftreten, als domestizierte Kleinkunst. Aber bitte vorher Eintrittskarte lösen und alle Anordnungen der Feuerpolizei beachten und keine Beleidigungen! Einfallsreichtum innerhalb der Grenzen des wattierten Risikos. Denn immer wacht jemand über uns.
Hab ich mal selbst erlebt: In einer unserer vielen bigotten Kirchen stieg ich eines schönen Nachmittags als geprüfter Theologe würdevoll auf eine Kanzel, die leerer gar nicht werden konnte und die mir deshalb echt leid tat.
Als Vater hielt ich es für notwendig, meiner Familie von der Ursünde zu predigen: der notorischen Unaufmerksamkeit gegenüber dem Kanzelredner. Da hechtete sich wirklich gleich der Küster aus der Sakristei und bedrohte mich aufs grässlichste. – Ich glaub, der hat sogar geflucht. – Das wird ihn am Ende eine Höllenfahrt kosten.
Um meine Familie nicht in Verzweiflung zu stürzen, verzichtete ich auf ein göttliches Strafgericht an dem Mitglied der Kirchen-Gestapo. Wenn er gar gewusst hätte, dass ich durch Bußpredigten fest verankerte Engelsgestalten zum Einsturz bringen kann – er hätte mir die Hand gereicht und zure Versöhnung ein Vesper gereicht.
Welcher Ort war’s? Sind sich alle gleich. Und alle Konfessionen. Die Toleranzbreite ist noch nicht mal so breit wie das Gesangbuch dick.
In Hamburg ging es übrigens im Januar 1943 weiter. Zwei der jungen Anhänger antinazistischer und antikirchlicher Fröhlichkeit stiegen, auf etwas ungewöhnlichem Weg, nachts in ihr Stammlokal ein und ließen etwas mitlaufen. Geschrei der Polizeiseelen aller Länder: „Einbruch! Diebstahl! Schwerer Brrrrrruuuuuch!“
Was war‘ denn? Sie ließen etwas Kuchen mitlaufen. Huhuhuhu.
Das müssen wir uns mit dem zur Zeit wieder auferstehenden Altmeister Brecht fragen:
Was ist ein Überfall auf die Sowjetunion oder die Tschechoslowakei gegenüber dem Mitgehen-Lassen von echt leckerem Kuchen?
Die meisten Deutschen hätten bei einer Befragung sicher zur Gestapo gehalten, freiwillig, ohne Druck.
Die Geheimen steckten die beiden „Schwerstverbrecher“ übrigens in ein Jugend-KZ. Der Kuchen war also von da an polizeilich geschützt.